Titelthema

Degrowth – eine konkrete Utopie

Johannes Heimrath sprach mit der ­Philosophin Barbara Muraca, die am Kolleg »Postwachstumsgesellschaften« der Friedrich-Schiller-Universität in Jena forscht.von Johannes Heimrath, Barbara Muraca, erschienen in Ausgabe #28/2014

Barbara, wir sind uns im Februar 2011 bei einer Schrumpfungstagung begegnet. Meine Lippe war blutiggeschlagen, weil mich in der Nacht zuvor ein Bundespolizist bei einer Mahnwache gegen einen Castor-Transport vor Lubmin niedergeknüppelt hatte. Du sprachst zu meiner Freude über den Rebound-Effekt – dass effizientere Technik meist höheren Ressourcenverbrauch nach sich zieht. Diese Perspektive wird bis heute von kaum jemandem zur Sprache gebracht.

Für mich ist diese Einsicht schon zur Selbstverständlichkeit geworden. Aber es stimmt, dass Deutschland – wo das Vertrauen in die Technik extrem verbreitet ist – dort einen blinden Fleck hat.

Dein neues Buch »Gut leben. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums« – schließt das eine aktuelle Arbeitsphase ab?

Das Buch ist eher ein Zwischenplateau, aber doch auch ein Abschluss meiner Zeit in Deutschland, denn ich gehe im Dezember in die USA als Juniorprofessorin an die ­Oregon State University. Das wird leider meinen CO2-Fußabdruck massiv erhöhen, denn aus familiären Gründen werde ich immer wieder zwischen den Kontinenten reisen. Mein nächstes Buch wird auf Englisch erscheinen. Darin werde ich mich mit der Frage beschäftigen, inwieweit die Degrowth-Perspektive eine konkrete Utopie verkörpert und welche Gefahren dies birgt.

Die »konkrete Utopie« – Ernst Bloch verstand sie als radikale Veränderung, deren Anlässe schon da sind und die Wirklichkeit werden kann, wenn viele Menschen sie wollen – war für mich immer eine wichtige Denkfigur. Seit den 1960er Jahren bringen alternative Bewegungen jeweils einen gewissen Entwicklungsschub, aber keine konnte breite Wirksamkeit entfalten. Was muss passieren, damit sich eine konkrete Utopie tatsächlich verwirklicht?

Das Spannende an der Degrowth-Perspektive ist ja gerade, dass sie als ­Sammelbecken gesellschaftlicher Strömungen wirken kann: Zusammen könnten sie eine Breitenwirkung entfalten! Ihre zentrale Botschaft, nämlich die Kritik an der ­Wachstumslogik und an der Logik des Fortschritts, trifft den Kern der modernen Gesellschaften. Ob kapitalistisch oder sozialistisch – alle ökonomischen Systeme haben sich bisher letztlich durch Wachstum legitimiert und stabilisiert. Darum hat Degrowth das Potenzial, transformativ zu wirken. Konkrete ­Utopie – das bedeutet nicht, ein präzise beschreib­bares Programm umzusetzen, sondern Räume zu eröffnen, in denen Alternativen gedacht und erlebt werden können und in denen verschiedene Gruppen ihre Programme wiederfinden. Im Sinn von Bloch bezieht sich eine konkrete Utopie auf bestehende Potenziale in der Gesellschaft – auf Kritik, die schon in Ansätzen formuliert ist.

Worin liegen bei diesem Prozess die Gefahren, die du eingangs angesprochen hast?

Eine Gefahr ist die Naivität, zu glauben, dass Veränderungen sich ohne Konflikte vollziehen würden. Mit der Polizeigewalt entlang der ­Castor-Transporte haben wir schon ein Beispiel. Erreichen eine Bewegung oder ein Projekt die Schwelle zu gesellschaftlicher Relevanz, müssen sie mit Widerstand und Gegenkraft rechnen. Darauf nicht vorbereitet zu sein, ist die erste Gefahr.
Die zweite sehe ich darin, dass die Utopie ideologisiert wird, indem man voreilig »Gut« von »Böse« trennt. Im Suffizienz-Narrativ – also in dem auf Genügsamkeit zielenden Strang der Diskussion um Wachstumsrücknahme – ist diese Gefahr angelegt, wenn zum Beispiel gesagt wird: Wer nicht diesen Lebensstil pflegt, gehört nicht dazu. Moralisierende Trennungen sind gefährlich.
Drittens birgt die Frage nach den Prot­agonisten und Eliten viele Gefahren: Was ist mit denen, die meinen, es besser zu wissen als andere? Menschen, die vorausgehen und experimentieren, sind wichtig. Aber Eliten, die sich selbst eine Rolle zuweisen und über die Köpfe anderer hinweg entscheiden, können Bewegungen schaden.

Ja. Wenn sich in solchen Bewegungen Prot­agonisten hervortun, die ihre Karriere auf ihrem Engagement und den entsprechenden Publikationen aufbauen, frage ich mich oft, wie sie dieser Gefahr entgehen können.

In diesem Konflikt lebe ich die ganze Zeit. Gerade in der Wissenschaftswelt, wo man angehalten wird, kontinuierlich die Anzahl der eigenen Veröffentlichungen zu steigern und immer noch mehr Drittmittel für Projekte einzuwerben, gerätst du leicht in eine Schleife, in der du die Welt da draußen vergisst und irgendwann von der Sucht nach Ruhm korrumpiert wirst. Wenn ich jetzt nach Oregon gehe, frage ich mich auch, ob ich dieser Schleife folge. Aber bisher überwiegt das Gefühl, dass ich dort als Frau in der Wissenschaft wirksamer sein kann als hier, wo es immer noch sehr schwer ist.

Wir dürfen uns weder von etablierten Systemen noch von der Ver­lockung, im Mittelpunkt zu stehen, vereinnahmen lassen. Mir gefällt an der Vorbereitungsgruppe der Degrowth-Konferenz, dass sie sehr selbstkritisch mit dieser Problematik umgeht.

Ja, das Schöne an dieser Gruppe ist die Breite an Ansätzen und Meinungen, die hier vertreten werden. Ihr konsensorientiertes Arbeiten bewirkt, dass eher kollektive Prozesse als Individuen im Mittelpunkt stehen. Nicht umsonst lautet das Motto der Konferenz »Brücken bauen«: Wir wollen der Vielfalt und den Differenzen Raum geben.

Damit bist du bei deinem zweiten Gefahrenpunkt, der Ideologisierung. Was weckt deine Kritik an der Suffizienz-Diskussion?

Suffizienz ist ein wichtiger Aspekt. Schwierig wird es, wenn die Forderung nach weniger Ressourcenverbrauch nur den individuellen Lebensstil meint. Vor allem in Deutschland wird so argumentiert: Alle sollen den Gürtel enger schnallen – das ist blind gegenüber der Lebenswirklichkeit vieler Menschen, die noch nie in den Genuss der Annehmlichkeiten, die die gebildete Mittelschicht hierzulande für selbstverständlich hält, gekommen sind. Sinnvoller finde ich die Fokussierung auf die Frage, wie ein erfüllendes Leben für alle Mitglieder der Gesellschaft bei den begrenzten Gegebenheiten des Planeten möglich wird.

Ja, im Suffizienz-Ansatz steckt die Gefahr eines neuen, paradoxen Heroismus: Wer am besten schrumpft, ist der Größte.

Ich komme ja aus Italien, und da aus einem katholischen Hintergrund. Deshalb sage ich manchmal provokativ, dass man sich auch gelegentlich daran erinnern müsse, Sünder zu sein: Barmherzigkeit ist für mich immer noch die größte Tugend.

Wie fühlt sich für dich das deutsche Wort »Bescheidenheit« an?

Als »Rückbesinnung auf das Wesentliche« mag ich das Wort. Aber es gibt eine sinnvolle Kritik aus feministischer Sicht: Für Frauen war die Forderung nach Bescheidenheit eine Form der Unterdrückung. Sich nichts zuzutrauen, stützt Systeme, die auf Ausbeutung ausgerichtet sind. Wir müssen Bescheidenheit mit Mut verbinden.

Ja. Früher würdigte man eine Verstorbene oft mit dem Satz: »Sie war eine bescheidene Frau.« Das zeigt diese Unterdrückung.

Viel transformativer als individuelle Bescheidenheit wirken gemeinschaftliche Prozesse, die beglückender sind als Besitz und Statussymbole. Die Degrowth-Gesellschaft verlangt eine radikalere Transformation als nur im Bereich des Konsums. Wir brauchen ganz andere Produktionsweisen, ganz andere Infrastrukturen, ganz anders gestaltete soziale Beziehungen. Deshalb finde ich das Commons-Narrativ, das die Gemeingüter und Relationen in den Mittelpunkt stellt, so spannend.

Solange nur im Kleinen kollaborative, solidarische Produktionsweisen ausprobiert werden, wird sich kaum Widerstand dagegen regen. Was aber, wenn solche Prozesse größere Ausmaße annehmen? Droht dann die erste von dir genannte Gefahr?

Ich erinnere mich an die Schockstarre, in die viele alternative Bewegungen in Italien nach den Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua 2001 verfallen sind – die Polizei hat den Demonstranten damals den Krieg erklärt, und darauf war der bunte Widerstand nicht vorbereitet. Vorbereitung bedeutet, sich Zeit für die Analyse der Situation zu nehmen: Ab welcher Schwelle fängt etwas an, für die etablierten gesellschaftlichen Systeme zum ernsthaften Störfaktor zu werden? Genauso wichtig sind die Erfahrungen, die Menschen in den sogenannten Nischen machen. In Barcelona lebt zum Beispiel der Geist der Platzbesetzungen durch die »Indig­nados« – die »Empörten« – in einigen Ecken der Stadt weiter. Dort bauen Menschen solidarische Netzwerke lokaler Produktion auf. Diese auch körper­liche Erfahrung gibt Kraft, sich mit Konflikten und Gegenmacht auseinanderzusetzen. Zugleich wächst, was in der Literatur »Education of Desire« genannt wird: durch lebendige Erfahrungen eine Ahnung von dem zu bekommen, was wir wirklich, wirklich wollen. Darin liegt ein starkes Potenzial.

Ja. Dieses »Heranbilden von Sehnsucht« gehört zur Herzensbildung. In dir entsteht ein unbändiges Verlangen, das zu verwirklichen, was du in Keimform als sinnhaft und schön erfahren hast. – Was mir Sorgen macht: Während wir in unseren Nischen unterwegs sind, setzen andernorts brutale Gewalttäter ein »Kalifat« als Alternative zur Moderne durch. Auch sie haben einen – pervertierten – Degrowth-Ansatz …

Solche fundamentalistischen Gruppen entstehen an der Schnittstelle zwischen der hochtechnischen westlichen Moderne und einer vermeintlichen Tradition, die es so nie gegeben hat und die als Gegenpart konstruiert wird. Auch das ist eine Antwort auf den Wachstumswahn. Es ist denkbar, dass sich Gesellschaften durch einen ökofaschistischen Weg an kommende Krisen anpassen werden. Darum spreche ich von einer demokratisch-solidarischen Degrowth-Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund finde ich es schön, dass das Wort »Imagination« in der Degrowth-Bewegung kursiert. Das gesellschaftlich Imaginäre – die Vorstellungen, die eine Gesellschaft zusammenhalten und unserer Praxis Sinn verleihen – darf sich von faschistischen oder diskriminierenden Tendenzen nicht vereinnahmen lassen.

Wie lässt sich deiner Meinung nach die Sehnsucht nach einer demokratisch-solidarischen Degrowth-Gesellschaft nähren?

In der französischen und italienischen Degrowth-Tradition geht es viel um »Konvivialität«, also um die fröhliche gemeinschaftliche Gestaltung des Gemeinwohls. Die Verzichts-Debatte tritt somit in den Hintergrund zugunsten der Suche nach einem guten Leben als kollektives Projekt.

Ich hoffe sehr, dass sich dieser Funke, den es auch hierzulande gibt, ausbreitet. Hab ganz herzlichen Dank für das Gespräch! •

 

Barbara Muraca (43) ist Philosophin und forscht in Jena zu Umweltethik, feministischer Philosophie, Prozess­philosophie und Degrowth.
www.kolleg-postwachstum.de

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