Gesundheit

Traditionelle ­Medizin der ­Zukunft

Beate Küppers sprach mit Andreas ­Michalsen, dem Leiter der naturheilkund­lichen Abteilung am Immanuel Krankenhaus in Berlin, über das Zusammenwirken von Schulmedizin, traditionellen Heilungs­methoden und einem gesundheitsförder­lichen Lebensstil.von Beate Küppers, Andreas Michalsen, erschienen in Ausgabe #27/2014
Photo

Wie kam es zur Gründung einer naturheilkundlichen Abteilung im Immanuel Krankenhaus Berlin und der Stiftungsprofessur?

Die Naturheilkunde hat in Berlin eine lange Tradition. Bereits 1901 wurde das erste Modellkrankenhaus für Naturheilkunde in Lichterfelde eröffnet. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden naturheilkundliche Abteilungen und Lehrstühle sowohl im Osten als auch im Westen der Stadt. Den Standort hier im Immanuel Krankenhaus gibt es seit 2001, mittlerweile mit einer stationären Abteilung, einer Tagesklinik und einer Hochschulambulanz. In Kooperation mit der Charité führen wir Forschungsprojekte im Bereich von Naturheilkunde und Komplementärmedizin durch. 

Sie beziehen in Ihre Arbeit und in die Forschung naturheilkundliches Wissen aus ganz verschiedenen Kulturen ein. Was verstehen Sie unter dem Begriff »Traditionelle Globale Medizin«?

Es gibt weltweit viele unterschiedliche Systeme traditioneller Medizin, z. B. die chinesische Medizin und indische, arabische, islamische, tibetische oder schamanische Traditionen. Sie alle weisen Ähnlichkeiten auf. Das mag daran liegen, dass native Kulturen grundsätzliche soziologische Gemeinsamkeiten sowie ähnliche medizinische und rituelle Handlungsweisen aufweisen. Ein Beispiel ist das Schröpfen, das weltweit angewendet wird: am Amazonas, in arabischen Ländern, in Tibet, China und der Mongolei, in Südindien, ­in Japan und bei den alten Griechen ebenso wie im mitteleuropäischen Raum. Auch die Unterscheidung verschiedener Pulsqualitäten und die Diagnose der Zunge ist vielen dieser Systeme gemeinsam.
Die globale Strategie der WHO für Umwelt und Gesundheit kommt zu dem Schluss, dass die Weltgesundheit zukünftig bei 10 Milliarden Menschen ohne Einbeziehung der traditionellen Systeme nicht zu gewährleisten und zu finanzieren sein wird. In der heutigen globalisierten und medialisierten Welt wird ja auch medizinisches Wissen exportiert und steht dann in seiner ganzen Fülle jeweils an einem Ort zur Verfügung. Es ist sinnvoll, die verschiedenen Systeme zusammen zu betrachten. Ich verstehe daher die globale traditionelle Medizin als Gegenstück – oder besser als Ergänzung zur analytisch deduktiven Medizin der Pharmakologie und Molekularbiologie.

Am Immanuel Krankenhaus wird auch mit Meditation und Entspannungstechniken gearbeitet. Was für Erfahrungen haben Sie damit gemacht?

Stress spielt bei vielen schwerst chronifizierten Krankheitsbildern eine große Rolle, beispielsweise bei entzündlichen Darm­erkrankungen, Migräne oder Bluthochdruck. Alle wissen das, auch die Ärzte – aber die wenigsten kümmern sich um diesen Motor, der die Symptome antreibt.
Die Mind-Body-Medizin hilft den Menschen, ein Gespür für sich selbst zu entwickeln. Sie bezieht persönliche, biografische und spirituelle Lebensfragen ein. Es muss gar nicht immer eine Psychotherapie sein – oft trägt bereits die einfache Spannungsregulation durch Yoga oder ein beherzt ausgesprochenes »Nein« dazu bei, dass der Blutdruck auf einmal sinkt oder kein Cortison mehr gebraucht wird. Wenn Menschen lernen, ihr Leben auch in der Krankheit aktiv zu gestalten, verbessert das die Lebensqualität und fördert die Heilungschancen.
Bei Krankheiten, die sich objektiv nicht mehr verbessern lassen, verändert sich die Perspektive. Naturheilkunde hat einen großen Vorteil: Statt Behandlungen nur passiv zu erdulden und beispielsweise angstvoll vor dem Kernspintomografen zu stehen, fördert sie die Selbstwirksamkeit und Eigen­kompetenz. In der Naturheilkunde hat das lange Tradition; Paracelsus sprach vom »inwendigen Arzt«. In der technischen Medizin ist hingegen nur wenig Partizipation möglich. Deshalb halte ich die Kombination beider Ansätze für so wichtig – dass vor und nach medizinischen Eingriffen die Naturheilkunde einbezogen wird.
Als wesentlicher Bestandteil für echte Heilungserfolge steht auch das Vertrauen, das Sich-geborgen-Fühlen an allererster Stelle. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass auf dieser menschlichen Grundlage Heilung um ein Vielfaches schneller möglich wird. Es ist eine ungünstige und sehr zu beklagende Entwicklung der modernen Medizin, dass für die Begegnung zwischen Arzt und Patient immer weniger Zeit zur Verfügung steht. Da sich wenig Geld damit verdienen lässt, wurde der Raum für die persönliche Beziehung wegrationalisiert. Inzwischen zeigen aber gerade die wissenschaftlichen Daten mehr und mehr, welch gewichtigen Faktor die Resonanz, die Begegnung und das Vertrauen für den Heilungserfolg darstellen. Naturheilkunde ist in diesem Zusammenhang wohl eines der letzten Reservate, in denen diese wichtigen Heilungsfaktoren noch ­einen großen Stellenwert haben.

Wenn Sie die Wirksamkeit von Iyengar-Yoga oder von Meditation erforschen – geht es dann darum, dass es wirkt, oder auch darum, warum es wirkt? Wenn ja, woran macht sich das fest, wie wird das gemessen?

Es geht eher darum, dass es wirkt. Wir überprüfen und belegen die praktische Wirksamkeit verschiedener Methoden im Sinn der evidenzbasierten Medizin. Das Studiendesign ist für alle Methoden ähnlich.
Die Wirkmechanismen zu erforschen, wäre wesentlich aufwendiger. Wollte man beispielsweise die Molekularbiologie aller ayurvedischen Kräuter entschlüsseln, wäre das ein Auftrag, mit dem alle Max-Planck-Institute fünf Jahre lang beschäftigt werden könnten. Leider gibt es dafür keine finanziellen Mittel.

Lassen sich Betrachtungsweisen wie die der fünf Wandlungsphasen aus der chinesischen Medizin oder der drei Doshas aus dem Ayurveda überhaupt an europäisch geprägte Menschen vermitteln, oder stoßen Sie da auf Skepsis?

Das ist heute kein Problem mehr; die Anerkennung für naturheilkundliche Per­spektiven und Verfahren in der Gesellschaft ist groß. Lediglich im Bereich der Homöopathie gibt es noch eine Art von Glaubenskrieg. Wenn ich mit Kollegen spreche, dann höre ich oft, dass sie auch schon Erfahrungen mit Akupunktur gemacht haben oder dass ihre Frauen zum Yoga gehen. Zu diesen Methoden gibt es auch viele Studien. Das ist der Vorteil der evidenzbasierten Medizin: Man muss nicht mehr streiten!

Kommen dann vor allem solche Menschen zu Ihnen, die ganz gezielt an Naturheilkunde interessiert sind?

Nein, wir bekommen auch viele Zuweisungen von schulmedizinisch orientierten Praxen und haben ein durchmischtes Pu­bli­kum. Chronische Erkrankungen sind für alle Ärzte ein Problem – weil es keine Antworten gibt. Zu uns kommen Menschen mit dauerhaften Schmerzen, Übergewicht oder Rheuma, die anderswo nicht mehr betreut werden. Unsere Abteilung schließt eine ­Lücke im Versorgungssystem und wird von den Kollegen geschätzt.

Halten Sie eine breitere Einbindung von Naturheilkunde in ein Gesundheitssystem, das von Mechanisierung, Pharmalobby und wirtschaftlichem Druck geprägt ist, für möglich – oder bleiben Abteilungen wie die Ihre doch eher Inseln?

Angebote im ambulanten Bereich gibt es genug! Im Prenzlauer Berg finden Sie bald mehr Naturheilkunde als Schulmedizin. Gerade in Berlin kann man alles haben – sei es mongolische Akupunktur, Hot Yoga oder Medizin nach Hildegard von Bingen.
Aber all das – und vor allem auch die seriöse, wissenschaftlich fundierte Naturheilkunde – spielt sich auf dem freien Markt ab und ist nicht in das Solidarsystem integriert. Das ist ein skandalöser Missstand! Dies führt auch zu einem anderen Problem: Dadurch, dass die Naturheilkunde so wenig reguliert ist, gibt es auch weniger seriöse Anbieter – »Scharlatane«, die damit gutes Geld verdienen. Beim Hausarzt oder in der Notaufnahme kennt man naturheilkund­liche und alternative Möglichkeiten nicht.
Die meisten Krankenhausträger sind nicht motiviert, Naturheilkunde in ihr Angebot aufzunehmen. Herzoperationen beispielsweise bringen einfach mehr Geld. So gesehen, sind wir durchaus eine Insel. Die Wartezeit für eine stationäre Behandlung beträgt inzwischen acht Monate.

Heißt das, Naturheilkunde gibt es nur da, wo nicht bloß Gewinnstreben, sondern auch noch Idealismus im Spiel ist?

Für die Immanuel-Diakonie ist soziales Engagement ganz wesentlich. Sie finanziert die Stiftungsprofessur und betreibt eine Vielzahl von sozialen Einrichtungen. Aber ganz ohne Wirtschaftlichkeit geht es auch in der Naturheilkunde nicht. Zumindest müssen die Kosten für die personell aufwendigere Betreuung eingespielt werden.
Ich glaube, die Medizin der Zukunft bei den großen chronischen Erkrankungen wird aus einer Kombination aus technischer Spitzenmedizin – mit der wahrscheinlich sparsamer als derzeit umgegangen werden muss – und einer integrativen Ergänzung mit Naturheilkunde und Methoden, die individuell einen gesunden Lebensstil und die Selbstwirksamkeit fördern, bestehen. Diese Mischung hat Zukunft. Aufgrund der demografischen Entwicklung ist abzusehen, dass chronische Erkrankungen weiter zunehmen werden. Der Erfolg der Schulmedizin treibt der Naturheilkunde die Menschen regelrecht in die Arme.
Ein Träger, der darin investiert, hat meiner Meinung nach den Erfolgsschlüssel für 2030 in der Hand!

Das klingt nach einer wünschenswerten ­Vision! Vielen Dank für das aufschluss­reiche ­Gespräch. •

 

Andreas Michalsen (53) ist Chefarzt der Abteilung für Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin, Inhaber der Stiftungsprofessur für klinische Naturheilkunde an der Charité und Vorstandsvorsitzender der Karl und Veronica Carstens-Stiftung.

Kontakt zum Immanuel Krankenhaus
http://naturheilkunde.immanuel.de

weitere Artikel aus Ausgabe #27

Photo
von Christina Stange

Anständig leben (Buchbesprechung)

Sarah Schill berichtet in ihrem locker aufgemachten Buch »Anständig leben« über den ernsthaften Versuch, ihren ökologischen Fußabdruck zu verringern  – mit einem Monat veganem, plastiklosem und bewusstem Konsum. Oder ist es doch nicht ernstgemeint,

Gemeinschaftvon Christina Stange

Wer sind meine Nachbarn?

Köln ohne Autos – wenigstens an einem Sommersonntag in zwei Stadtvierteln: Der »Tag des ­guten Lebens« bringt Alt und Jung vor der eigenen Haustür zusammen.

Photo
Bildungvon Anke Caspar-Jürgens

Verständnis fürs Anderssein

Strategien für neues Lernen in Schulen – Folge 6: Mit der Anne-Frank-Schule in Bargteheide schließt unsere Serie: Die Einrichtung am Rand einer Großstadt sortiert, anders als üblich, die Kinder nicht in »starke« und »schwache«, sondern fördert durch die Arbeit in Kleingruppen gegenseitige Unterstützung und die Würdigung von Andersartigkeit.

Ausgabe #27
Verbundenheit

Cover OYA-Ausgabe 27
Neuigkeiten aus der Redaktion