Titelthema

Wer sind meine Nachbarn?

Ein Stadtviertelfest in Köln stiftet Verbindung zwischen den Menschen.
von Christina Stange, erschienen in Ausgabe #27/2014

sEin großes Sofa steht mitten auf der Straße. Wo normalerweise Autos fahren und parken, frühstücken heute ein paar Leute an einer langen Tafel und fragen zaghaft ihren Tischnachbarn: »Ach, du wohnst auch hier?« An einer Ecke liest eine Frau den Kindern Märchen vor, und ein paar Straßen weiter macht einer Musik und singt – kein Obdachloser, der sich ein paar Euro dazu­verdient, sondern ein Nachbar aus dem Viertel. Da vorne kreischen Kinder und stellen sich immer wieder im Erdgeschoß eines Mehrfamilienhauses an, um aus dem Fenster hinaus auf einen Berg Luftmatratzen zu springen …
Schon zum zweiten Mal wird 2014 ganz offiziell der »Tag des guten Lebens – Kölner Sonntag der Nachhaltigkeit« stattfinden. Im September 2013 wurde der Tag aus der Taufe gehoben, geboren aus dem Bedürfnis einiger Bürgerinnen und Bürger, sich in direkter Nachbarschaft ganz praktisch besser begegnen zu können. Sie organisierten sich als »Agora Köln« – Arbeitskreis und Netzwerk in einem –, suchten Sponsoren und mobilisierten die Nachbarn in einem lebendigen Kölner Viertel namens Ehrenfeld mit etwa 20 000 Einwohnern. Zur Vision gehörten damals die Schlagworte »autofrei«, »soziale Begegnung«, »unkommerziell«, »von Nachbarn für Nachbarn« und allem voran der Wunsch, die Menschen in den Kölner »Veedeln« näher zusammenzubringen.
Ein voller Erfolg: Aus den 4500 beteiligten Ehrenfeldern wurden plötzlich 100 000 Neugierige. Ein gewöhnliches Straßenfest, wie man es sonst in Köln kennt, war es nicht. Doch was hat so viele Nachbarn und Besucher fasziniert, und was ist geblieben?
Wenn ich Surk-ki Schrade zuhöre, müssen überhaupt keine großen und politischen Vorzeigeresultate aus diesem Tag erwachsen. Schon im zweiten Jahr organisiert sie den »Tag des guten Lebens« in Ehrenfeld von der Basis aus mit. Gerade um das Kleine, Feine gehe es ihr, vor allem aber um etwas ganz Selbstverständliches: »Sprich mit deinem Nachbarn!« Ein Lächeln, ein »Guten Morgen« oder vielleicht ein kurzes Gespräch auf dem Weg zum Einkaufen, das den Tag verschönert, ein gutes Gefühl gibt und Keimzelle für eine gesündere und glücklichere Gesellschaft sein kann: All das tut nicht weh, kostet nichts und lässt immer wieder einen Tag guten Lebens entstehen. So einfach.

Vornamen statt Vorurteile
Sich nicht zu kennen, ist eine der größten Schwierigkeiten in der Stadt. Selbst wenn ich ahne, dass die Frau dort drüben in derselben Straße wohnt, heißt das noch lange nicht, dass wir uns grüßen. Der über 90 Jahre alte Nachbar von gegenüber traute sich zunächst nicht auf das Fest – und saß dann später vor dem Haus mit ein paar jungen Leuten, um sich prächtig zu unterhalten. Seither kennt man sich, und es fühlt sich neu und doch vertraut an.
Surk-kis typische Handbewegung während unseres Gesprächs ist eine grüßende Hand nach draußen, wenn mal wieder jemand am Schaufenster ihres kleinen Weinladens vorbeigeht, in dem wir sitzen. Wir trinken Tee aus Weingläsern. Die Tür ist offen, und Surk-ki lebt ihr Motto tagtäglich: Sie spricht mit ihren Nachbarinnen und Nachbarn. Nicht zufällig hat sie dieses Jahr das »Ressort Nachbarschaftsmobilisierung« in der Planungsphase übernommen.
»Schaut man jemandem in die Augen, zeigt man seine Seele«, sagt die 43-Jährige unpathetisch und wundert sich ein bisschen über die Facebook-Generation, die viele Ideen postet, aber ihre realen Nachbarn nicht kennt. Begegnungen werden über die Social-Media-Plattformen »konsumiert« – doch geht es nicht darum, selbst dabeizusein und mitzumachen?
»Da, wo ich bin, da bin ich ganz. Sind mir die Menschen in meiner Gegend vertraut, dann brauche ich im Netz nicht nach Optionen suchen. Kenne ich jemanden persönlich, dann gelten die Werte Vertrauen, Verbindlichkeit, Verantwortung und Achtsamkeit ganz von selbst. Treffen kleine Welten aufeinander, dann knallt es nicht so schnell wie bei großen und anonymen Gruppen, die in unpersönlichen Diskussionen Konflikte hochstilisieren.«
Surk-ki versteht nicht recht, warum im Organisationsteam explizit über Randgruppen und die Einbindung von Minderheiten diskutiert wird. Das Fest sei von allen für alle, und keiner müsse sich ausgeschlossen fühlen, um dann kompliziert und offiziell wieder eingeschlossen zu werden. Aller Wahrscheinlichkeit nach gehört irgendjemand aus deiner Nachbarschaft einer »Minderheit« oder »Randgruppe« an. Doch sobald du sie kennst, werden aus »dem CDU-Tuppes, der Türkin mit Kopftuch und der armen Kranken einfach Peter, Melda und Margit. Und genau die geben dir Bescheid, wenn einer sich an deinem Fahrrad zu schaffen macht, oder helfen dir sonntags mit einem Pfund Butter für den Kuchen aus.« Ist das nicht schon ein großer Schritt?
Aber was, wenn der »Tag des guten Lebens« einmal wider Erwarten aufgrund zu knapper Finanzierung nicht stattfinden könnte? »Es hätte sich dennoch gelohnt«, betont Surk-ki, »all die gemeinsamen Treffen mit den Nachbarn, der Reichtum an Unterschiedlichkeiten, der wertgeschätzt und nicht gleichgemacht wird.«
Die viele Arbeit wird ehrenamtlich geleistet: die umfangreiche Planung, der Flyerdruck, unzählige Gespräche mit den Ämtern …  Jede und jeder hat andere Vorstellungen von einem »Tag des guten Lebens«, und alle bringen andere Fähigkeiten mit. Das unter einen Hut zu bringen – ist das anstrengend? »Nein, das macht sogar Spaß und bereichert!«

Heimat – selbstgemacht
Auch für den Österreicher German May, 62 und seit 19 Jahren Wahlkölner, hat der »Tag des guten Lebens« etwas verändert. 2013 war er in Ehrenfeld zunächst Ansprechpartner für seine Straße. Dieses Jahr war er für die Kommunikation zuständig. »Weil es das war, was übrigblieb«, schmunzelt der sympathische Inhaber des Afrika-Ladens mit wunderbarem österreichischem Akzent. German weiß, dass das gute Leben im Viertel genau in dem Moment beginnt, in dem ein einzelner Verantwortung übernimmt. »Wir erwarten in der Regel viel von den anderen«, stellt er fest, »auch ganz diffus von ›der Politik‹ oder ›denen da oben‹«. German wünscht sich ein Gegengewicht zur Zentrifugalkraft der Globalisierung, einen Magnetismus, durch den die Kräfte der einzelnen nicht zerstreut, sondern nach innen gebündelt werden. Am »Tag des guten Lebens« war genau das geschehen.
Germans Heimat ist immer da, wo sein Herz sich zu Hause fühlt – und das fühlt subtil, aber deutlich diese besondere Schwingung seit der ersten Aktion im September 2013. Eine Gefühl von Vertrauen sei nun vorhanden, auf dem sich aufbauen ließe – unter »Bekannten« traut er sich nun, nach dem »Hallo« komplexere Themen anzusprechen. Selbst mit den Nachbarn, die in all der Alltagshektik keine Zeit für Engagement haben, fühle es sich jetzt anders an – ein Stück Heimat mehr, selbstgemacht.

Feuer fangen!
Der »Tag des guten Lebens« war gelungen, weil er so einfach und bescheiden war und weil nicht verlangt wurde, äußeren Erwartungen gerecht zu werden. Mehr als auf Perfektionismus liegt der Fokus auf der pragmatischen Suche nach Lösungen und auf gegenseitigem Vertrauen. Der größte Gewinn der Aktion liegt darin, die Menschen ganz authentisch zu erleben, sie unmittelbar und ohne Ziel und Zweck einfach »sein« und sich selbst feiern zu lassen. Dieser dynamische Prozess geht weiter. Surk-ki sagt: »Wir können eigentlich gar keine Fehler machen – wir üben Begegnung.« Die Nachbarn üben von nun an gerne weiter – gemäß dem Kölner Grundsatz: »Das zweite Mal ist Tradition, das dritte Mal ist Brauchtum.« Mal sehen, welches zusätzliche Veedel im nächsten Jahr Feuer fängt und ebenfalls nicht mehr aufhört zu brennen. •

 

Christina Stange (41), Mutter von zwei Kindern, ist Heilpraktikerin, Ausbildungsdozentin und Journalistin. Sie glaubt an Nachhaltigkeit und alternative, selbstbestimmte Lernwege.


Na, Feuer gefangen? Hier gibt’s weiteren Brennstoff
www.tagdesgutenlebens.de

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