Die Kraft der Vision

Kein Kinderspiel

Unsere Kinder haben ein Recht darauf, wieder Kinder zu werden.von Arno Stern, erschienen in Ausgabe #26/2014
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Auf die Frage: Was ist ein Kind? sollte die Antwort sein: ein spielender Mensch. Können aber Kinder überhaupt noch spielen? Ich meine nicht, ob sie Zeit und Gelegenheit dazu haben. Nein, ob die Lust und sogar die Fähigkeit noch bei den Kindern dieser Generation besteht.
Es gab immer schon altkluge, zum Erwachsensein früh erzogene, wie Erwachsene aussehende Kinder. Doch heute sind wir mit einem weltweiten Pro­blem konfrontiert. Wir sehen verstummte, erschöpfte, lebensenttäuschte Greise im Kleinformat. Kleinformat? Sie sind allerdings übernatürlich groß – wie zu schnell entwickelte, bodenlos gezüchtete Gewächse, wie die Blumen und das Obst, die zwar nicht reifen durften, aber äußerlich im erzwungenen Glanz des Künstlichen leuchten. Es ist fast schon so, dass ein spielendes Kind auffällt. Quasi entschuldigen sich die kleinen Frühreifen, dass sie etwas so Unvernünftiges und vor allem Unnützes getan haben und nichts sorgenvoll Sinnvolles wie die anderen. Unter allen Spielen ist eines nicht nur besonders wichtig, sondern auch weltweit verbreitet: das sogenannte Zeichnen.
Es gibt – nein, es gab! – wohl kein Kind, das nicht Stunden damit verbrachte, im Spielraum weißer Blätter Welten anzulegen als vergängliche, aber unbezweifelte Inszenierungen des Innenlebens, der Erfahrungen und der Wünsche. Für wie viele Kinder war das Blatt ein Zufluchtsraum! Und wer das ahnte, eilte ihnen dorthin nicht nach. So konnte wenigstens in diesem kleinen Garten Eigenes gedeihen.
Ja, das Zeichnen der Kinder … darüber sind viele Bücher geschrieben worden. In denen wird behauptet, das Zeichnen entstehe aus der Fantasie des jungen Wesens, aber der kindlichen Schöpfergabe sei ein Ende verschrieben. Und hernach sei den Hilflosen ein dringender Beistand nötig, damit sie noch – oder wieder – zufriedenstellende Werke anfertigen.
All das ist unwahr. Es entstehen keine Werke. Die Äußerung entwächst nicht dem Einfallsvermögen. Und weder der Impuls noch die Fähigkeiten des Kindes sind je erschöpft. Und der Hilfe bedarf das Kind nur, wenn es zuvor durch belehrendes Eingreifen unfähig gemacht worden ist. Mozart und sonstige bekannte Wunderkinder seien hier weggelassen. Denken wir nur an das Kind in unserer Gesellschaft. »Kind« heißt: der Mensch von seiner Geburt bis zu etwa fünfzehn Jahren – der Mensch, auf den sich der schwere Schatten der Schule legt.
Zu den bedenklichen Problemen, die wohl in den kommenden Jahren an Bedeutung zunehmen werden, kann ich nicht schweigen. Zuviel Unwahres steht im Umlauf: Noch nie sei so viel für die Kinder gemacht worden; es gehe ihnen gut. Die Erwachsenen brauchten sich also keine Vorwürfe zu machen.
Seit fünfzig Jahren besteht meine Beschäftigung darin, Kindern das Malen zu ermöglichen. Ermöglichen heißt: besondere Bedingungen zu schaffen, damit aus der spontanen Lust eine uneingeschränkte, ungeahnte Äußerung entstehen kann. Jedes Kind versteht es, dem gewöhnlichen Blatt Papier eine Welt entwachsen zu lassen.
Als ich – noch unerfahren, mit der Betreuung einer Kindergruppe beauftragt – dies allein zur Kenntnis nahm, da ging mir ein Licht auf. Dass dies möglich ist, dass es ohne weitere Anregung geschieht und zu einem so unermesslichen Abenteuer führt, das überwältigte mich. Darüber, dachte ich, müsste doch jeder staunen! Das Geschehen auf dem Blatt – mir erschien es als ein Wunder – ist nicht eine gefällige Kreation, ist nicht wie ein erarbeitetes Werk, sondern die Spur eines Prozesses, der im Kind selbst geschieht. Das Blatt ist nicht das Gegenüber des Malenden, sondern der Malende selbst. Diese ­Erkenntnis bestimmte mein Verhalten, das Beurteilung und Eingreifen ausschließt.
Es gibt Leute, die von Fortschritten im Zeichnen sprechen, weil sie glauben, anfangs könne es das Kind noch nicht so gut wie da Vinci oder Dürer, aber man dürfe erwarten, dass es später dazu gelange. Manche bemühen sich, ihren vermeintlich unbemittelten Schülern das »richtige Zeichnen« beizubringen. Diese Einstellung findet sich in Lehrbüchern über den Zeichenunterricht aus den verschiedensten Jahrgängen und Gegenden der Welt wieder!
Und es kam noch zweierlei hinzu. Es kamen die Leute, die sich einredeten, in der Zeichnung sei eine geheime Botschaft versteckt, und sie hätten die Aufgabe und Fähigkeit, diese Botschaft zu entziffern. Es begann mit einem fantasiereichen Analytiker, und sofort scharten sich Unzählige um ihn, die alle ihre eigenen Fantasien ankurbelten. Wer es nur konnte, machte aus seiner intuitiven Betrachtung eine Theorie und verbreitete sie. Davon leben viele Leute. Sie stellen sich gegenseitig Diplome aus und wirken glaubwürdig.
Was ferner hinzukam, war die Kunsterziehung. Und dieses Unternehmen, das schließlich mit dem zuvor Genannten Hand in Hand geht, hat die natürliche Fähigkeit des Menschen und die Möglichkeit ihrer Äußerung wie Unkraut vertilgt. Mit dem Zeichenunterricht hat es begonnen, und dann steigerte sich die Behandlungsweise des Kindes bis zur Museumsdidaktik. Deshalb steht das Kind heute da wie ein Behinderter, ist beistandsbedürftig, führt nur noch Aufgaben aus, ist des Eigenen entwöhnt, ist dem Spielen entfremdet.
Als ich Kindern begegnete und Zeuge ihrer Hingabe war, wusste ich sofort, dass sich hier eine wichtige Begebenheit abspielt. Aus dem Gelegentlichen entwickelte sich eine Gewohnheit. Durch diese wiederum nahm das Spiel an Bedeutung zu. Ich schuf eine Einrichtung, um es zu fördern. Es geschah noch viel mehr, immer mehr durch diese Einrichtung, weil sie das Spiel erleichterte und die Äußerung in einem nie zuvor gewährten Maß ermöglichte.
Je stärker die Kinder das Spiel erlebten, desto dringender wurden ihre Ansprüche. Bilder mussten größer werden: So benötigte man Leitern und Schemel. Manches an der anfänglichen Ausstattung des Raums musste den wachsenden Forderungen der Kinder angepasst werden. Ich wurde mir meiner Rolle inmitten der Malenden immer bewusster: Ich war ein Dienender. Und je mehr ich den Kindern die Handhabung erleichterte, desto größer wurde ihre Hingabe an das Entstehenlassen der Spur auf dem Papier.
Es kam nie dazu, dass über diese Spur gesprochen wurde. Es kam nur dazu, dass die Malenden verlangten, was sie zum Entstehenlassen der Spur in die geeignete Lage versetzte.

Beurteilung erzeugt angepasste Werke
Wenn es für die Spur einen Empfänger gibt, wird sie zum Gegenstand einer Vermittlung. Betrachtet jemand die Spur – sei es das Kind selbst oder ein Außenstehender –, dient sie der Kommunikation. Wird sie gar noch beurteilt, dann ist sie nicht mehr eine unbezweifelte, endgültige Äußerung, sondern ein dem Betrachter angepasstes Werk, das auf Wirkung eingestellt ist und mit der Erwartung entsteht, Aufnahme zu finden.
Bis vor etwa zwanzig Jahren war es noch so, dass Kinder in der Schule zeichneten, was der Lehrplan vorschrieb, und im Malort, wo alles anders ist als im Klassenzimmer, das Malspiel erlebten. Sie hatten kaum Mühe, die beigebrachten fremden Bilder zu überwinden. Sie begriffen sehr schnell, dass sie hier nicht eine für andere bestimmte Zeichnung ausführen müssen. Das begriffen Kleine und Große, und jedes Kind freute sich Woche für Woche auf die Malstunde, in der es so Großartiges erleben durfte. Für viele, die es mir Jahre später erzählten, waren diese Stunden die allerschönsten Momente ihrer Kindheit.
Das Herbstblatt im Schulheft, das Maiglöckchen oder gar die Gipsnachbildung einer klassischen Plastik gehörten zu den Schulaufgaben. Welches Kind wurde damals schon mit Kompositionsgesetzen, Farblehre, mit Begriffen wie Kontraste, Harmonie, Stilistik etc. überfallen? Nur solche, die in dafür eingerichtete Institutionen eingetragen wurden, wo – zum Stolz der Eltern – von kleinen Künstlern die Rede war, von frühzeitiger Annäherung an sogenannte kulturelle Werte. In der Mehrzahl blieben sie davon noch verschont.

Die heutige Kunsterziehung bringt Hochstapler hervor
Dann wurde es anders. Die heutige Kunsterziehung lässt niemanden mehr aus. Alle Kinder müssen jetzt die Kunst parodieren. Sie werden aufgefordert, mit einem Löffel Farbkleckse zu machen, oder mit einem überladenen Pinsel das Blatt anzuspritzen. Und die Zufallsflecken, wenn noch seitwärts darauf gepustet worden ist, werden dann als moderne Kunstwerke ausgestellt und gefeiert. Es kann auch mit dem Messer dicke Farbe aufgestrichen werden, in die mit einer Gabel Furchen eingekerbt werden. Mit solchen Mitteln lernt das Kind, dass es nur darauf ankommt, Aufsehen zu erregen – womöglich auf eine trügerische Weise –, nicht etwas aus einem wahren schöpferischen Impuls entstehen zu lassen. Es wird zum Hochstapler erzogen, zum Gaukler, der mit geschickten Streichen etwas vorzumachen versteht.
Dann erlebt das Kind nicht sich selbst im Malspiel, sondern es benützt den Pinsel, um einen leichtfertigen Streich zu spielen. Im Malort, der dem Natürlichen im Menschen ein fruchtbarer Boden ist, steht dann das kleine Kind hilflos, gelangweilt. Wohin ist seine Begeisterungsfähigkeit entschwunden? Was bleibt vom Vertrauen zum freundlichen Erwachsenen übrig?
Da steht es nun und ist so klug nicht, wie man es wünschte, aber auch so jugendfrisch nicht mehr, wie es sein sollte. Es ist schon zu viel Gewesenes in ihm. Kind sein heißt doch: sich wundern über alles, immer dem Kommenden zugewendet sein. Hier steht nicht das Kind, sondern sein verkleideter Doppelgänger, der – wie eine falsche Münze – fast echt aussieht. Die Bildungsansprüche der Gesellschaft haben das Kindhafte im Kind erstickt.
Im Malort jedoch erfährt das Kind (inmitten anderer, die ihr Vertrauen, ihren Glauben – mit anderen Worten: ihre Spiellust wiedergefunden haben), dass es selbst ein spielendes Kind sein darf und kann. Und aus der wiedergefundenen Überzeugung entstehen dann all die eigenen Bilder, die im Leben des Kindes vorgesehen sind, als ein Naturgeschehen.
Und die vielen anderen, die heranwachsen, ohne Kinder gewesen zu sein? Glaubt man etwa, ihnen fehle nicht, was verlorenging?
Der Stellenwert des Kindes steigerte sich in der Konsumgesellschaft aus vorwiegend marktwirtschaftlichen Gründen. Als Folge dieser Entwicklung ist immer mehr die Rede von Kinderrecht. ­Davon fühle ich mich angesprochen. Und ich möchte die Hoffnung äußern, dass damit das Anrecht auf wahres Kind-Sein gemeint ist. Eure Kinder sind keine Kinder mehr. Lasst sie es wieder werden! •

Gekürzter Auszug aus: Arno Stern: Das Malspiel und die natürliche Spur. Malort, Malspiel und die Formulation. Drachen Verlag, 4. Auflage, 2014.

Arno Stern wurde 1923 in Kassel geboren. Nach der Machtübergabe an Hitler emigrierte seine ­Familie nach Frankreich. Als der damals 22-Jährige 1946 in einem Pariser Kinderheim die Betreuung von Kriegs­waisen übernahm, ahnte er nicht, dass damit eine außergewöhnliche Karriere beginnen sollte. Ohne rechte Vorstellung von seiner Aufgabe ließ er die Kinder einfach malen. Bereits die ersten Erfahrungen machten ihm die Wichtigkeit dieses Spiels bewusst – und auch, dass es dafür geeigneter Bedingungen bedarf. So erfand er eine besondere Einrichtung, den Palettentisch und die schützenden Wände: Der »Malort« (französisch: »Closlieu«) war geboren – ein Raum mit einer unvergleichlichen Stimmung, der bis heute Kinder wie Erwachsene zum Malspiel anregt und sie ihrer Spontaneität begegnen lässt. Die UNESCO entsandte Stern als Experten zum ersten internationalen Kongress über Kunst­erziehung in Bristol. In der Folge war er als ­Referent an Symposien und als Gastdozent an Universitäten, Museen, Bildungs- und Ausbildungsstätten tätig. Er verfasste Schriften über seine Arbeit, die in zahlreichen Sprachen erschienen, und gibt seit über 30 Jahren international Seminare und Ausbildungskurse. In jüngster Zeit wurde er einer breiteren Öffentlichkeit durch Erwin Wagenhofers Film ­»Alphabet« bekannt.

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