Titelthema

Wie entsteht lebendige Gemeinschaft?

Dieter Halbach sprach mit der Trainerin für Gemeinschaftsbildung Dolores Richter über die Qualität und Vielfalt von gemeinschaftlichem Leben.von Dieter Halbach, Dolores Richter, erschienen in Ausgabe #25/2014
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© Fotoatelier Julia Tham

Dolores, du lebst seit 30 Jahren in Gemeinschaft und berätst Gemeinschaftsprojekte. Was ist die Essenz des Gemeinschaftlichen?

Für mich ist es ein Gefühl von Verbundenheit mit Menschen. Zugleich empfinde ich eine Zugehörigkeit zu etwas, das über mich und die einzelnen Menschen hinausgeht. Für mich ist es natürlich, lebensnah und auch sinnerfüllt, gemeinschaftlich zu leben.

Der Begriff »Zugehörigkeit« steht oft für Ausgrenzung und starre Gruppenidentität. Zugehörig wozu? Zu einer Gruppe, zur Welt?

Jede Gemeinschaft hat auch diese Schattenseite, auf der sie sich zu sehr über ihre Gruppenzugehörigkeit definiert. Ich meine aber diese Zugehörigkeit zum Menschsein. Für mich ist Gemeinschaft auch etwas Stellvertretendes für eine Art universeller Ordnung. Ich glaube, dass der Mensch im Tiefsten ein Stammeswesen ist. Dass wir in der menschlichen Evolution versuchen, uns davon zu befreien, ist verständlich, aber auch trügerisch. Auch in der perfekten Einzimmerwohnung sind wir nicht unabhängig. Wenn wir uns das Bedürfnis nach Zugehörigkeit eingestehen, das uns wegen der Enge und des geschichtlichen Missbrauchs von Gemeinschaft auch Angst macht, kommt ein Gefühl von »Richtigkeit« auf.
In reifen Gemeinschaften stehen Bewusstsein, Transparenz, Selbstverantwortung und Autonomie mindestens so hoch im Wert wie das Gemeinschaftliche. Das Verbindende geht über die Menschen hinaus, die in der Gemeinschaft leben. Es ist ein ähnliches Gefühl wie die Zugehörigkeit zur eigenen Familie. Wenn da eine tiefe, klare Liebe ist, fühlen wir auch dort diesen universellen Charakter. In Gemeinschaft entwickelt sich im besten Fall Menschenliebe.

Welche Fähigkeiten brauchen wir, um diese Verbundenheit in Freiheit zu entwickeln?

Mit Gemeinschaft assoziieren wir, dass es dort Definitionen gibt, wie jemand zu sein hat, wenn er dazugehören möchte. Aber dieses tiefe Gemeinschaftsgefühl, wo man Mensch unter Menschen ist, entsteht nur, wenn die Gemeinschaft eine geistige Weite hat, die Verschiedenheit wirklich unterstützt. Das ist nicht gleichbedeutend mit: »Ich mache, was ich will«, sondern mit »Ich werde, wer ich bin«. Das erfordert eine Transformationspraxis, eine kulturelle Verwandlung unseres Denkens über Definitionen, Konkurrenz, Macht und Konsum. Wir entwickeln eine andere Perspektive auf unsere wirkliche Identität, von der unsere Gesellschaft und unser Schulsystem systematisch ablenken. Selbstverständlich bringen wir unsere Verhaltensmuster und frühen familiären Prägungen in jede Gemeinschaft mit. Sie brauchen Aufmerksamkeit, sonst werden Gemeinschaften schnell zu einem engen, ideologischen Kochtopf, wo man sich gegenseitig erzieht, aneinander zerrt und sich dienstverpflichtet.

Was kann dabei helfen?

Zum einen die Reflexion darüber, woher wir als Menschheit kommen, wie menschliche Dynamiken funktionieren und wie der Weg in eine neue Kultur aussehen könnte. Zum anderen helfen konkrete Zusammenkünfte, wo das Neue erfahren werden kann, wo eine Atmosphäre entsteht, in der sich die authentische Identität entwickeln und ausdrücken kann. Dafür muss eine Gruppe sich Zeit geben und eine gute Feedback-Kultur aufbauen. Es ist hilfreich, die verschiedenen Werkzeuge, wie Sprechstabrunden, das »Forum«, gewaltfreie Kommunikation, oder den Wir-Prozess zu nutzen. Die Form des Forums – hier drücken Menschen im Kreis einer Gemeinschaft ihre innere Wirklichkeit aus – ist aus diesem Impuls entwickelt worden: um persönliche Transformation mit kultureller Transformation zu verbinden. Im Kern liegen den verschiedenen Methoden ähnliche Absichten zugrunde, sie lassen sich gut miteinander verknüpfen. Entscheidend ist aber nicht die Methode, sondern der Geist, in dem sie angewandt wird.

Du hast von Feedback gesprochen. Wie kann es wirklich nährend gegeben werden, so dass es nicht zum gegenseitigen Erziehungsmittel wird?

Ein Feedback sollte den anderen unterstützen, seine eigene Wahrheit zu leben – nicht meine. Das hat mit Selbstkenntnis und Selbstliebe zu tun. Wenn ich Teile in mir ablehne, lehne ich sie auch in anderen ab und verlange von ihnen – unbewusst oder bewusst – sie sollen sich bitte ändern. Meine Haltung ist, dass ich niemandem sagen kann, was richtig ist. Ich kann ihm sagen, wie ich ihn wahrnehme oder wie ich selbst in einer bestimmten Situation agiere. Aber die Entscheidung, was für einen Menschen wahr oder gut ist, kann nur der einzelne selbst treffen. Feedback ist etwas anderes, als meine Meinung über einen Menschen zu sagen; es ist eine tiefe Schau auf den Menschen und dessen innere Welt. Ein hilfreiches Feedback kann es sein, jemanden zu spiegeln, wenn er sich von anderen Menschen abtrennt. Wenn das ohne Besserwisserei gegeben wird, als ein Spiegel, in den er oder sie sehen kann, dann entspannt sich etwas in diesem Menschen, und es entsteht wieder Verbindung. Ein kritisches Feedback, das mir zum Beispiel einen Schatten zeigt, den ich naturgemäß selbst nicht sehen kann, kann ein großes Geschenk sein. Und das kann naturgemäß am ehesten von jemandem gegeben werden, der schon ein paar eigene Schatten belichtet hat.

Heißt »frei von Verurteilung« auch frei davon, dass derjenige sich anpassen muss?

Es ist eine ganz tiefe Entscheidung, den anderen wirklich freizulassen, also ihn nicht ändern zu wollen.

Wie sieht das in intimen Beziehungen aus? Aufgrund der eigenen Betroffenheit ist es da oft noch schwerer, den anderen freizulassen.

In den Gemeinschaften, in denen ich gelebt habe, gibt es eine menschliche Verbindung, die sich durch Transparenz und das gemeinsame Forschen entwickelt hat. Damit meine ich, dass Menschen um meine inneren Prozesse wissen. Das wiederum wirkt sich auf meine Partnerschaft aus, sie wird getragen von einem intimen Feld. Der Raum zwischen Ich und Du kann süß und innig, aber manchmal auch sehr eng sein. Es ist, als würde die Süße stärker, wenn sie über uns zwei hinausfließen kann. Die überpersonale Liebe hat dann Platz in der Partnerschaft. Wie die Hochzeit in ihrer rituellen Bedeutung die Liebe zwischen zwei Menschen in der Öffentlichkeit bezeugt, so erlebe ich es auch in der Partnerschaft, wenn sie in eine Gemeinschaft oder einen guten Freundeskreis eingebunden ist. Dadurch entstehen eine Kraft und eine Weite, wodurch das, was man in Beziehungen so anstellt, einem nicht ganz so um die Ohren fliegt. Das ist der Raum, von dem du sprichst, dort wirkt dieser gemeinschaftliche Kulturgedanke. Gemeinschaft trägt der Tatsache Rechnung, dass wir als zwei Liebende viel Stoff aus Biografie und kollektiver Geschichte in uns tragen, der eine entsprechende Bühne braucht, um »gesichtet« und kommuniziert werden zu können. Ich persönlich bin sehr dankbar dafür, dass ich das so erleben darf – 30 Jahre Partnerschaft, die von Gemeinschaft mitgetragen ist.

Du bist mit deiner Familie in die Nähe der ZEGG-Gemeinschaft gezogen, die du mitgegründet hast. Ist das eine gute Distanz?

Was mir im ZEGG vor allem gefehlt hatte, waren Raum und Zeit für die Wirkung über die Gemeinschaft hinaus. Wenn ich in Gemeinschaft bin, dann lasse ich mich voll darauf ein. Damals habe ich es nicht geschafft, mich genügend abzugrenzen. Das kann ich jetzt viel besser. Dadurch, dass ich ein Stück außerhalb bin, kann ich mich mehr der Welt zuwenden. Ich kann auch mehr mit meiner Familie sein – es entwickelt sich ein noch tieferes Ja füreinander. Gleichzeitig bin ich noch Gemeinschaftsmitglied und in guter Verbindung mit der Gemeinschaft.

Ist dein Zuhause auch ein Raum, der es ermöglicht, das, was du in Gemeinschaft erlebst, anders zu reflektieren?

Eine meiner Fragen vor der Entscheidung, nicht mehr im ZEGG zu wohnen, war: Wie lässt sich das, was wir in Gemeinschaft erleben, auf die Gesellschaft übertragen? Eine andere: Wie lässt sich das, was im Alltag von Gemeinschaften eng wird, auflösen? Vor allem in basisdemokratischen Gruppen ist es oft so, dass die vielen Themen, die anstehen, den Einzelnen fast »erschlagen«.Ich erlebe in Gruppen, die keinen Alltag miteinander teilen, manchmal eine Intensität von Öffnung und Ehrlichkeit, die so im gemeinschaftlichen Alltag eher selten ist. Dieses Phänomen finde ich interessant. Es gibt solche Momente auch in Lebensgemeinschaften, aber es muss viel investiert werden, damit der Alltagsgeist entlassen wird.

Kann es sein, dass im Gemeinschaftsgedanken auch Systemfehler stecken? Es gibt ja einen spezifischen Gemeinschafts-Burnout, der vielleicht mit der Komplexität, der Entscheidungsfindung und der großen Nähe zueinander im Alltag zu tun hat. Das lädt Projektionen und Widerstände geradezu ein. Der Blick geht nach außen.

Wenn der Blick nach innen fehlt – also auf die eigenen Muster und Schatten –, dann ist das schon ein Systemfehler. Dann fühlt es sich manchmal so an, als sei da eine große Familie mit zu vielen Kindern, die immer das Gefühl haben, zu wenig zu bekommen oder auch zu viel teilen zu müssen. Das ist nicht gesund. Die Zukunft der Gemeinschaftsevolution liegt für mich in klarer Absicht, Systemoffenheit und Flexibilität. Sie gibt der Errungenschaft der Individua­tion Raum. Sie integriert »erwachsene« Menschen, die sich selbst auf ein tieferes Lebensprinzip verpflichten.

Was sollte man dazu bei einer Gemeinschaftsgründung beachten?

Bevor Fakten geschaffen werden, wie Geländekauf, Hausbau etc., ist ein gründlicher Gemeinschaftsbildungsprozess sinnvoll. Es ist von großer Bedeutung, dass die Werte, der Geist und die Art der Kommunikation miteinander gut eingestimmt sind, bevor die faktischen Themen den Raum zu sehr einnehmen. Heute entstehen neue Formen von Gemeinschaft. Eine Bewegung in den Städten ist, dass Menschen sich gemeinschaftlich verbinden, ohne den Alltag miteinander zu teilen. Dadurch lassen sich individuelle Bedürfnisse und Unterschiede mit dem qualitativ Wertvollen von Gemeinschaft gut verknüpfen.

Mit der »Be(e)-School« in Berlin baust du so ein Netzwerk auf. Sie soll Menschen darin ausbilden, ihre Potenziale für eine nachhaltige Welt gemeinsam besser einzusetzen.

Wenn wir uns auf eine tiefe Weise zu einer Gruppe verbinden, können wir die Weltsituation ganz anders wahrnehmen. Die Verdrängung ist nicht so groß. Wir können die Themen der Zeit als Einzelwesen oft gar nicht erfassen, deswegen wird der Geist der Gemeinschaft jetzt auch in ganz anderen Größenordnungen gebraucht. Menschliche Intensität und Offenheit sind Quellen der Inspiration für diese Aufgabe.
In der Be(e)-School verbinden wir den Prozess der Selbstkenntnis – der Berührung mit dem Lebendigen in mir – sowie die Gruppenbildung mit der Absicht, nachhaltige Projekte umzusetzen. Da geht es vor allem um Handlungskompetenz.

Wie geschieht der innere Wechsel zu mehr Wirksamkeit? Kennst du dafür Beispiele?

Wenn wir voneinander wissen, wer was tun will oder auch schon umsetzt, gibt dieser Kontext dem eigenen Handeln mehr Perspektive. Oft lähmt uns die Frage: Was bringt das, wenn ich das tue? Auch durch die Diskussion über politische Ereignisse wird manchen klarer, wo sie sich einsetzen können. Da baut dann einer ein interkulturelles Begegnungszentrum für Eltern in Berlin auf, andere entwickeln eine alternative Altersvorsorge, ein Berufsorientierungsprogramm für Jugendliche oder eine Vernetzung kreativer Frauen auf dem Land.

Welche gemeinschaftlichen Entwicklungen erlebst du in der Stadt?

Ich treffe Städter, die mir sagen: Mir ist nichts wichtiger als meine Freiheit. Auch ich liebe an der Stadt Inspiration, Kreativität und Schnelligkeit. Ich glaube, dass unsere Gemeinschaften eine Offenheit auch für diese Energie brauchen. In Berlin gibt es viele kreative Bürogemeinschaften, die Gemeinsinn und Nachhaltigkeit praktizieren oder sich als Sozialunternehmer zusammenfinden. Das ist eine Richtung, die sich ausbreitet und die dem Zeitgeist entspricht.

Das allgemeine Bild von Gemeinschaft prägt immer die Idee, dass alle gleich sind.

Mein Bild ist, dass Gemeinschaft aus vielen authentischen, erwachsenen, ungleichen Teilen besteht. Wo ich mich selbst im Kern noch nicht kenne, empfinde ich die Gemeinschaft als eng und meine, ich müsse mich gegen die anderen behaupten. Gemeinschaft aufzubauen und gleichzeitig das tiefste eigene Selbstgefühl zu stärken – das ist unsere Aufgabe. Dafür muss ich auch mit mir selbst eine Gemeinschaft gründen. Wenn alle widersprüchlichen Aspekte in mir gemeinschaftlich wohnen, habe ich gute Voraussetzungen, Verbindung mit Menschen gestalten zu können. Das bedeutet Wachstum hin zur eigenen Gestalt und Hingabe an das Ganze in einem – ein wunderbares Paradox, das uns lebendig hält.

Wir werden sehen, wie uns das gelingen wird. Hab Dank für deine Zeit und das ­gemeinsame Nachdenken. 



Dolores Richter (54), Mitbegründerin der Gemeinschaft ZEGG, arbeitet als Coach für Gemeinschaftsprojekte und als Forum-Trainerin.

Gemeinschaftsbewusstsein erweitern
www.doloresrichter.com
www.bee-school.org

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