Gemeinschaft

Leben wie die ersten Christen?

Ein Besuch bei der christlichen Basisgemeinde Wulfshagenerhütten.von Sabrina Gundert, erschienen in Ausgabe #23/2013
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 Als ich mich auf den Weg zur christlichen Basisgemeinde Wulfshagenerhütten bei Kiel mache, begleitet mich ein leicht mulmiges Gefühl. Was wird mich erwarten? Eine dogmatische Gemeinschaft, in der jeder zumindest evangelisch oder katholisch sein muss und jedes Gespräch um das Thema Gott kreist? Oder eher eine offene, inspirierende Gruppe gemeinsam Praktizierender, in der das Eigene seinen Raum hat, so, wie ich es bereits in buddhistischen Sanghas erlebt habe?
Und so wundere ich mich, als niemand in der Basisgemeinde nach meiner Religionszugehörigkeit oder meinem Glauben fragt. Mehr noch: Alle, die dort leben, sind aus den verfassten Kirchen ausgetreten – was jedoch nicht heißt, dass sie nicht eng nach der Religion oder der Kirche leben würden. Die Austritte sind vielmehr der Geschichte der Gruppe geschuldet. Es war vor 40 Jahren, als die Gemeinschaft sich in Kornwestheim bei Stuttgart aus einem ökumenischen Gesprächskreis rund um den örtlichen Pfarrer heraus zu formieren begann. Die anfänglich 15 Personen suchten nach Alternativen zur bestehenden Lebens- und Wirtschaftsform. Sie wollten wissen, wie Frieden und Gerechtigkeit für alle Menschen und die ganze Schöpfung lebbar werden können. Die Idee, sich als neue Gemeinschaft an die Evangelische Landeskirche Baden-Württemberg anzuschließen, scheiterte, denn die Gruppe hatte eigene Vorstellungen und wollte manches anders machen. Beispielsweise mochten sie aus der Überzeugung, dass erst ein Erwachsener sich bewusst für die Gemeinschaft und damit auch für einen Glauben entscheiden könne, ihre Kinder nicht mehr taufen lassen. Seitens der Kirche gab es keinen Platz für die Querdenker, und so machten sie sich auf, ihren eigenen Weg zu gehen.

Gelebter Glaube
»Wir wollten das Evangelium leben und Gott unser Leben wandeln lassen«, erklärt Margret Ellwanger, die von Anfang an in der Basisgemeinde aktiv ist. Die Bibel sei die Grundlage ihres heutigen Gemeinschaftslebens. In ihr fanden die Suchenden Antwort auf ihre Frage nach einer alternativen Lebensform – ein Leben wie das der Urchristen, in dem alles geteilt wird: Kraft, Zeit, Geld.
Im heutigen Gemeinschaftsalltag zeigt sich der Glaube zum Beispiel in der Gebets- und Gesangsstunde vor dem Mittagessen. Dann wird der alte Ballsaal des Gutshauses auf dem Gemeinschaftsgelände zur Kirche mit großem Stuhlkreis und kleinem Altar an der Seite. Stimmen die 50 Gemeinschaftsmitglieder das »Kyrie eleison« an, wird spürbar, wie ernst sie es alle mit dem Leben für und mit Gott meinen, denn die – für mich unerwartete – Lautstärke könnte locker mit der in einer voll besetzten Kirche mithalten. Leidenschaft und Inbrunst dröhnen mir entgegen. Es fällt mir schwer, einige der Texte und Lieder mitzusingen oder zu beten. Was überzeugten Christen wie ein Himmelreich erscheinen mag, entpuppt sich für andere als eher schwieriges Feld.
So stark wie der Glaube hier ist, wird verständlich, dass er die Kraft hatte, die Gemeinschaft gerade in den Anfangsjahren und durch schwierige, finanziell klamme Zeiten zu tragen. Gottvertrau-en zieht sich wie ein roter Faden durch das gemeinsame Leben. »Die Zeile aus dem Vaterunser ›Unser tägliches Brot gib uns heute‹ verstanden wir viele Jahre lang ganz wörtlich«, erinnert sich Mar­gret Ellwanger. »Am Monatsanfang wussten wir meist nicht, wie wir am Monatsende die Rechnungen bezahlen sollten.« Was sie dann erzählt, auf welch höchst kuriosen Wegen sich doch stets ­alles zum Guten fügte, jagt mir – das muss ich zugeben – so manchen Schauer über den Rücken.

Gemeinschaftsleben
Auch die Aufnahme neuer Menschen in die Gruppe liegt hier ganz in den Händen Gottes. Muss in anderen Gemeinschaften vor dem Beitritt oftmals erst ein hoher Geldbetrag eingezahlt werden, so wird in der Basisgemeinde in Gesprächen und während einer Probezeit geprüft, ob die oder der Interessierte von Gott gesandt wurde. Christ zu sein, ist keine Voraussetzung, um in die Gemeinschaft einzusteigen – wohl aber die Bereitschaft, sich dem Leben und der christlichen Lehre zu öffnen. Wer für immer bleiben will, legt nach mehreren Jahren ein Gelübde ab – für die Gemeinde, für den Weg »in der Nachfolge Jesu«. Das bedeutet auch, eigene Interessen, Neigungen und Wünsche zugunsten der Gemeinschaft zurückzustellen und beispielsweise in dem Bereich zu arbeiten, in dem das Kollektiv Unterstützung braucht. Statt individueller Selbstverwirklichung steht in der Basisgemeinde Wulfshagenerhütten das Folgen von Gottes – nicht selten unergründlichen – Wegen im Vordergrund.
Zeiten für Rückzug und Privates gibt es denn auch wenig. Die Abende werden oft zusammen verbracht; man diskutiert, sieht einen Film oder musiziert. Familien und Alleinstehende leben in kleineren Gruppen zusammen, teilen Küche, Bad, Wohnzimmer und das tägliche Leben. Gearbeitet wird gleich nebenan, in der Werkstatt, der Küche oder anderen Bereichen. Alle haben ihre Arbeitsplätze auf dem Gelände, das Leben für und mit der Gemeinschaft prägt jeden Augenblick des Tages. Nur die Kinder und Jugendlichen gehen im nächsten Ort zur Schule. Nachmittags werden sie von Bezugspersonen aus der Gemeinschaft betreut.

Soziales Engagement
Sozial, gesellschaftlich und im Umweltbereich konzentriert sich das gemeinschaftliche Engagement auf einige wenige Bereiche. »Wir suchen nicht aktiv nach neuen Feldern, in denen wir tätig werden können«, so Margret Ellwanger. »Vielmehr schauen wir auf die Zeichen Gottes und folgen dem, wohin er uns führen will.« Solche Zeichen haben sie zum Beispiel nach der Katastrophe von Tschernobyl 1986 zu einer monatlichen Mahnwache vor dem Atomkraftwerk in Brokdorf geführt. Und sie führten auch dahin, in der hauseigenen Werkstatt für Holzspielgeräte verschiedene ökologische und soziale Ansätze zu verfolgen. So arbeiten hier neben den Gemeindemitgliedern 20 Angestellte aus der Region, unter ihnen viele Langzeitarbeitslose und andere Menschen, die in der konventionellen Wirtschaft keinen Platz finden. Die gesamte Produktion erfolgt vor Ort, ausschließlich aus einheimischen Hölzern. Nicht zuletzt geht es der Gemeinschaft auch darum, dass das Spielmaterial nicht zum Konsum verführt. »Kinder sollen Neues entdecken und das entfalten können, was in ihnen angelegt ist. Das ist nicht möglich, wenn immer neue, künstliche Bedürfnisse von außen erzeugt werden«, so Martin Klotz-Woock, zuständig für Einkauf und Planung in der Werkstatt.
Die Vernetzung mit Gemeinschaften außerhalb der eigenen Glaubensrichtung ist wenig ausgeprägt, doch es gibt Kontakte zu anderen christlichen Gemeinschaften, zu Dependancen in Berlin und Ungarn sowie zur Basisgemeinde in Südamerika. Die Gemeinschaft ist Mitglied im Diakonischen Werk und im europäisch-friedenskirchlichen Netzwerk »Church and Peace«.
Keine Frage, die christliche Basisgemeinde kann nicht mit anderen gemeinschaftlichen Orten verglichen werden, an denen womöglich offene Beziehungen, freie Liebe und das Zusammenleben von Menschen jeglicher (Nicht-)Glaubens- und spiritueller Richtungen praktiziert werden. Wer hingegen auf der Suche nach einer Gemeinschaft ist, in der ein ausgeprägter – gewissermaßen urchristlicher – Glaube im Mittelpunkt des Lebensalltags steht, wird sich in Wulfshagenerhütten wohlfühlen.
In dieser Gemeinschaft leben – das könnte ich selber nicht. Dafür ist das Bedürfnis, meinem ganz eigenen Ausdruck im Leben zu folgen und in dem Bereich zu arbeiten, in dem ich mich selbst zu Hause fühle, zu groß. Auch stehe ich dem christlichen Glauben nicht nahe genug, als dass ich ihn auf derart intensive Weise täglich leben wollte. Offen, freundlich, hilfsbereit, interessiert und achtsam wurde ich aber von den Menschen in Wulfshagenerhütten aufgenommen, und wirklich – wir haben uns über Gott und die Welt unterhalten! •


Sabrina Gundert (25) lebt und arbeitet als freie Journalistin, Autorin und Geografin in Meersburg am Bodensee. Dort leitet sie kreative Schreibwerkstätten. www.handgeschrieben.de

Urchristliche Interpretation des Gemeinschaftsgedankens
www.basisgemeinde.de

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