Gemeinschaft

Den Mythos des Getrenntseins überwinden

Michael Plesse und ­Wolfram Nolte sprachen mit dem Kulturphilosophen und ­Vordenker der Occupy-Bewegung Charles Eisenstein.von Wolfram Nolte, Michael Plesse, Charles Eisenstein, erschienen in Ausgabe #22/2013
Photo

Vom 14. bis zum 16. Juni trafen sich in Port­alegre in Portugal 300 Gäste aus Europa und Übersee, um mit den Einwohnern Möglichkeiten einer neuen Ökonomie zu erkunden, die für alle gut ist. Für das Treffen wurde der Begriff »Ajudada« gewählt, der eine alte portugiesische Praxis der gegenseitigen bäuerlichen Hilfe bezeichnet. Wie könnte eine zeitgemäße Ökonomie, die auf gemeinschaftlichen Werten und Beziehungen beruht, aussehen? Charles Eisenstein war Hauptredner bei diesem Treffen. 


Charles, du bist durch deine Werke »Renaissance der Menschheit« und »Ökonomie der Verbundenheit« bekannt geworden. In beiden Büchern legst du den Schwerpunkt auf die Frage, wie wir uns wieder mit der Natur, miteinander und mit uns selbst verbinden können. Wiederverbindung scheint das zentrale Thema für dich zu sein – warum?

Alle unsere Krisen – die ökologische, die ökonomische, die politische und so weiter – wurzeln in einem tiefsitzenden Mythos, den man den »Mythos der Separation« [= Trennung] nennen könnte. Er besagt, dass das Selbst ein einzelnes, abgetrenntes Individuum in einem ebenso getrennten Universum sei. Der Mythos besagt weiter, dass die Menschheit fundamental von der Natur getrennt sei; dass nur die Menschheit Intelligenz, Willen und Geist besitze und dass Natur nicht mehr als ein Haufen Materie sei, artverschiedene Teilchen, die wir zu unseren eigenen Zwecken ungestraft manipulieren dürften.
Diese Ideologie der Separation korre­spondiert mit der kulturell geprägten Erfahrung, getrennt zu sein. Da wir von Massenprodukten entfernter Herkunft umgeben sind, drängt sich der Gedanke geradezu auf, dass die Welt nicht mehr als eine Ansammlung von Produkten sein kann. Wir leben zudem in einem Konkurrenz erzeugenden, auf Schulden und Zinsen beruhenden Geldsystem, das den Anschein einer Welt konkurrierender Individuen erweckt.
Um den Mythos der Separation zu überwinden, ist es wichtig, sich wieder ­miteinander und mit der Natur zu verbinden. Erfahrungen der Verbundenheit machen die ideologische Basis unseres derzeitigen zerstörerischen Systems brüchig. Solche Erfahrungen helfen natürlich auch, ein Stück unseres verlorenen Wesens, unser weitreichendes Beziehungs-Selbst, wiederzuentdecken.

Was hat dich motiviert, nach Portalegre zu kommen und am Ajudada-Treffen teilzunehmen? War es dessen expliziter Bezug auf die früher übliche Solidarität – alle Mitglieder einer dörflichen Gemeinschaft übernahmen bestimmte Aufgaben und teilten sich die Verantwortung?

Ajudada ist ein inspirierendes Projekt, um Gemeinschaft und nicht-monetäre Beziehungen wiederzubeleben, und ich möchte das, so weit ich kann, unterstützen. Wenn ein Ort wie Portalegre – gestützt auf die Kraft der Menschen und nicht auf Zuteilungen der EU – seine Zukunft zum Guten wenden kann, dann können das viele andere Orte auch. Ich hoffe, dass Ajudada den Menschen auf der ganzen Welt zeigt, was möglich ist.

Was sind die »Agenten des Wandels«, welche Menschen bringen den Prozess der »Renaissance der Menschheit« voran?

Jeder, der mit der alten Geschichte von der Separation, der Eroberung, der Kontrolle, der Beherrschung Schluss macht. Jeder, der den Menschen Erfahrungen der Verbundenheit, Einheit, Liebe, Vergebung, Selbstversorgung oder Gemeinschaft ermöglicht. Jeder, der einen Kontext anbietet, in dem alle unsere Bemühungen, eine schönere Welt zu schaffen, Sinn ergeben.

Und was sind deiner Meinung nach die ­ermutigendsten Initiativen und Projekte in diesem Kontext?

Es gibt da keine Rangliste der ermutigendsten Projekte. Aber ich denke, dass selbst kleinste Initiativen und persönliche Entscheidungen, anders zu leben, die Welt verändern werden. Es geht nicht nur um die großen, weithin sichtbaren Dinge.
 

Was hältst du von den Transition-Town-Initiativen, die für resiliente Lebensweisen eintreten, wenn der Peak-Oil sich mehr und mehr bemerkbar macht. Du erwähnst im letzten Buch, dass die Betonung von Peak-Oil eine fatalistische Haltung des Verzichts und der Einschränkungen bewirken könnte. Doch was ist die Alternative?

Ich glaube nicht, dass Peak-Oil uns zu wirklichen Veränderungen veranlasst. Er macht es nur schwerer, die altbekannte Welt aufrechtzuerhalten.
Wir sollten uns vielmehr mit jener anderen Art von Wohlstand beschäftigen, die dem geläufigen Verständnis von Fortschritt geopfert wurde. Wenn wir Systeme gestalten, die mehr Gemeinschaft erlauben, mehr Muße, eine engere Verbindung zur Natur, weniger Konsum, werden wir nicht ­ärmer und opfern nichts, was essenziell zum menschlichen Wohlergehen beiträgt – im Gegenteil.
Ein Beispiel: Bei einer schlechten Wirtschaftslage können die Menschen nicht mehr so oft in Restaurants speisen – also sinkt das Bruttosozialprodukt. Aber was passiert wirklich? Die Leute fangen an, wieder mehr selbst zu kochen. Möglicherweise besuchen sie sich wieder öfter in ihren Häusern. Die Ökonomen würden sagen, dass es schlecht und uneffizient sei, zu Hause zu kochen. Aber diese Effizienz berücksichtigt nur die wirtschaftlichen Zahlen. Es gibt etwas nicht Messbares, das verlorengeht, wenn die Nahrung nicht mehr in den privaten Räumlichkeiten zubereitet, sondern das Kochen professionalisiert wird. Ähnlich ist es mit dem Gärtnern, der Kinderbetreuung, dem gemeinsamem Singen und so fort.

Du hast hier in Portugal auch das Gemeinschaftsprojekt Tamera besucht. Welche Rolle spielen für dich Ökodörfer und andere intentionale Gemeinschaften in einem Prozess des Wandels?

Sie sind wichtig, um zu erforschen, wie wir in Verbundenheit leben können. Wie würde z. B. eine ökologische Gesellschaft aussehen? Orte wie Tamera experimentieren damit und finden heraus, was funktioniert und was nicht. Ich denke nicht, dass jeder in ein Ökodorf ziehen sollte oder könnte. Was wir eigentlich wollen, ist, bestehende Orte entsprechend dem, was wir auf diesen »Inseln« gelernt haben, umzuwandeln.

Um die Verbundenheit unter den Menschen zu stärken, hältst du es für wichtig, auch unsere ökonomischen Beziehungen zu verändern. Was verstehst du unter dem Lösungsansatz der »Schenkökonomie«?


Schenkökonomie schließt alle ökonomischen Beziehungen ein, die nicht durch Geld oder präzise Tausch-Absprachen vermittelt sind. Das heißt, dass Tauschhandel nicht Teil der Schenkökonomie ist. Beispiele für Schenkökonomie wären etwa: Mütter kochen für Kinder; Nachbarn helfen einander; Menschen singen zusammen, teilen sich ihre Setzlinge, verschenken Babykleidung an junge Paare in der Nachbarschaft, nehmen Tramper mit, schaffen Open-Source-Software, machen Couchsurfing, geben Sachen weiter – persönlich oder über Anzeigenportale im Internet.

Gibt es für die Zivilgesellschaft einen Weg, mit dem politischen System zusammen­zuarbeiten, um die Schenkökonomie zu verbreiten?

Es gibt viele Aspekte zur Schenkökonomie; einige stehen in Konflikt mit bestimmten politischen Interessen. Die Inhaber geistiger Eigentumsrechte etwa versuchen über das politische System die Entwicklung einer digitalen Schenkökonomie aufzuhalten. Irgendwann werden wir unsere politischen und monetären Systeme wohl so verändern wollen, dass sie einige wesentliche Elemente des Schenkens beinhalten.
Ein Beispiel, worüber ich schon geschrieben habe, ist der Vorschlag eines universellen Grundeinkommens, auch »soziale Dividende« genannt. Das ist eine jährliche Zahlung an alle Bürger, die ausreicht, um die notwendigen Lebenshaltungskosten abzudecken. Wenn man mehr Geld will, könnte man trotzdem arbeiten, aber man muss es nicht. Diese Zahlung wäre ihrem Wesen nach ein Geschenk. Die Ökonomen würden sagen: »Dann hätten die Menschen kaum einen Anreiz zu arbeiten!« Aber ist das wahr? Vielleicht sind wir ja von Natur aus kreative Wesen. Vielleicht haben wir von Natur aus den Wunsch, zum Wohlergehen von anderen beizutragen. Vielleicht würde solch ein universelles Grundeinkommen den Menschen die Freiheit geben, in dieser Weise zu handeln – auf Wegen, die gegenwärtig als uneinträglich gelten.

Kann Schenkökonomie die normale Ökonomie komplett ersetzen? Oder bleibt sie nur ein Teilbereich, beschränkt auf den persönlichen oder lokalen Kontext?

Wer weiß das? Vielleicht leben wir eines Tages in einer geldlosen Gesellschaft. Das ist aber nicht mein Thema. Ich beschäftige mich damit, wie wir einige – nicht alle – Bereiche unseres Lebens von der Geldsphäre zurückgewinnen können und z. B. für die alten Menschen und die Kinder sorgen, Nahrung zubereiten und – wenigstens zum großen Teil – Nahrungsmittel selbst herstellen, Spiel und Unterhaltung selber machen, Häuser bauen usw.  Aber alle Arbeiten, die mehr als einige hundert Menschen erfordern, müssen koordiniert werden. Derzeit geschieht das über Geld, in einer Art und Weise, die Milliarden von Menschen unglücklich macht und die ökologischen Grundlagen unserer Zivilisation zerstört. Deswegen müssen wir die Art, wie Geld funktioniert, ändern. Ich spreche nicht für die Abschaffung des Geldes, sondern für einen anderen Umgang damit, der dem Leben dient.

Charles, vielen Dank für das Gespräch!

 

Charles Eisenstein (46) ist Kulturphilosoph, Schriftsteller und freier Dozent. Er gilt als wichtiger Theoretiker der Occupy-Bewegung. Eisenstein lebt mit seiner zweiten Frau und seinen vier Söhnen in Harrisburg, Pennsylvania.


Weitere Infos
Literatur:
Charles Eisenstein: Renaissance der Menschheit. Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters. Scorpio, 2012; Ökonomie der Verbundenheit. Wie das Geld die Welt an den Abgrund führte und sie dennoch jetzt retten kann. Scorpio, 2013
Internet
www.charleseisenstein.net

weitere Artikel aus Ausgabe #22

Photo
(Basis-)Demokratievon Jochen Schilk

Konsens. Eine Findung

Im Rahmen unseres ländlichen Nachbarschaftsnetzwerks haben wir eine Wohnungsbaugenossenschaft für Kauf, Sanierung, Bau und Verwaltung von gutem Wohnraum für alte und neue Bewohner der Region gegründet. Gerade haben wir den Vertrag für ein erstes Haus unterschrieben;

Photo
von Anja Humburg

In unserer Macht (Buchbesprechung)

In ihrer letzten Sitzung vor der Sommerpause beackerten die Abgeordneten im Bundestag eine lange Liste an Gesetzesvorschlägen und Diskussionspunkten. Ihre Agenda reichte vom Hilfsfond zur Bewältigung des Elbe-Hochwassers, einer Ost-West-Angleichung im Rentenrecht und der Qualität in

Photo
Kunstvon Bea Simon

Improvisation und Demokratie

Schon in meiner Jugend ermüdete ich, wenn ich am Cello saß und ein Notenblatt nach dem anderen aufgelegt wurde. So schön die klassische Musik sich zuweilen anhörte, meine eigene war es nicht. Doch gab es sie überhaupt, diese eigene Musik? Ich suchte und fand. Nach

Ausgabe #22
Entscheidungskunst

Cover OYA-Ausgabe 22
Neuigkeiten aus der Redaktion