Bildung

Ein Silberstreif am Horizont

Das Schulsystem schaut zu sehr nach ­Defiziten und verkennt die Individua­lität ­unsere Kinder, befindet Thea Herzig. Sie denkt über Alternativen nach.von Thea Herzig, erschienen in Ausgabe #22/2013
Photo

Können Eltern ihre Kinder zu Hause unterrichten, wenn sie nicht Lehrer sind? Ist das überhaupt erlaubt? Solche Fragen ­haben ihre Berechtigung, doch inzwischen bin ich entschlossen, das Abenteuer Homeschooling zu wagen, um mir und ­meinem Sohn die vielleicht beste Zeit unseres Lebens zu ermöglichen.

Der Zeitpunkt, an dem ich mich für das Thema Freilernen zu interessieren begann, ist kein Zufall. Es war vor zwei Jahren, als mein Sohn Sebastian eingeschult wurde. Eigentlich beginnt diese Geschichte sogar schon früher, nämlich im Kindergarten: Weil Sebastian nicht schön schreiben würde, empfahl mir die Erzieherin, den damals Vierjährigen untersuchen zu lassen und in die Psychomotorik zu schicken. Das Besondere daran war, dass Sebastian zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht schrieb! Der sonst sehr geschickte und sportliche Junge malte krakelig, und das fiel der aufmerksamen Kindergärtnerin sofort als »Defizit« ins Auge. Damit waren wir beim Leit- und Leidthema, das uns bis heute begleitet: Defizit. Das Wort Defizit wird vielen Kindern sozusagen als Kennung beim Eintritt in die Schule ans Revers geheftet. Statt nach Fähigkeiten und Potenzialen zu schauen, werden vor allem mögliche Mängel gesucht. Woran das liegt, kann ich nur mutmaßen. Ist es in der heutigen Leistungsgesellschaft schon soweit, dass nur Hochbegabung nicht als Defizit gilt? Ist es in unserer individualisierten Welt den Kindern nicht erlaubt, Individuum zu sein?

Frühselektion beginnt im Kindergarten
Bei der ersten Aufforderung, Sebastian beim Spezialunterricht anzumelden, war ich noch wie vor den Kopf geschlagen. Ich hatte den Kleinen immer als aufgeweckt und stark empfunden. Dass mit ihm etwas nicht stimmen könnte, wäre mir im Traum nicht eingefallen. Als mich die Kindergärtnerin ansprach, war ich im ersten Moment überzeugt, sie verwechsele mich; so absurd schien mir ihr Ansinnen. Als ich dann einsehen musste, dass sie mich und meinen Sohn meinte, erkannte ich, dass es bereits im Kindergarten um Früherkennung, Frühförderung und Frühselektion geht. Seit der ersten Klasse liegt mir nun auch die Grundschullehrerin in den Ohren, das Kind müsse »abgeklärt« werden. Warum? Eine befriedigende Antwort habe ich noch nicht bekommen. Vielleicht, weil er zu langsam ist und leicht ablenkbar? Weil er am Anfang oft gefragt hat, ob die Lehrerin mich nicht anrufen könne und er früher nach Hause gehen dürfe? Weil er nicht ordentlich genug ist und Aufträge vergisst? Die einen nennen so etwas vielleicht ADHS, ich nenne das sieben Lebensjahre Qual beim Stillsitzen und Lernen von Dingen, die an den kindlichen Interessen vorbeigehen.
Nach einem Jahr Drängen und schlechten Zensuren – für das Kind oder die unkooperative Mutter? – gab ich nach und ging mit Sebastian zur örtlichen Erziehungsberatung. Nach fünf Sitzungen kam heraus, dass das Kind normal begabt sei. Immerhin. Die größten Schwierigkeiten dabei hat mir die Tatsache bereitet, dass ich als Erziehende kein Mitspracherecht habe. Dies drückt sich unter anderem darin aus, dass die Berichte der Speziallehrer nur zur Psychologin der Erziehungsberatung geschickt werden und nicht an uns Eltern. Von mir wurde erwartet, dass ich mich und meine Erziehung an den Stil der Lehrinstitution anpasse.
Genau an dieser Stelle regt sich bei mir Widerstand. Ich war schon immer eine ausgeprägte Individualistin, habe für mich selbst schon früh das Recht eingefordert, diejenige zu sein, die ich sein wollte. Wie kann ich da mein Kind dieser Form von Gleichschaltung in der Schule aussetzen? Ich selbst war anpassungsfähiger, als Sebastian es ist, aber ich bewundere ihn für seine Sturheit. Ich selbst wollte gefallen: meiner Lehrerin, meinen Eltern und wer da noch alles war. Einerseits ist das der einfachere Weg, da einem das Lob der Erwachsenen gewiss ist. Andererseits ist es garantiert nicht der Weg zum eigenen Glück. Was ist wichtiger? Für die eigene Selbstentfaltung zu gehen oder sich auf dem Weg des geringsten Widerstands an die Forderungen der Umwelt anzupassen? In meinem Leben habe ich meistens letzteres gewählt.
Das wird sich jetzt ändern, denn ich bin entschlossen, mein Kind als »Potenzialentfaltungs-Coach« zu unterstützen und das Abenteuer des freien Lernens zu wagen: Bildung zu Hause, Lernen mitten im Leben. Im Homeschooling-Alltag erhoffe ich mir Freiräume, in denen Kreativität und Interesse entstehen können, ohne dass sie von Erwachsenen verordnet ist.  

Ein halbes Jahr später: www.freilerner.jimdo.com

weitere Artikel aus Ausgabe #22

Photo
(Basis-)Demokratievon Jara von Lüpke

Denkhüte und Schattenpuppen

Ich sitze in einer hitzigen Diskussion. In vielen verschiedenen Worten wird über das Gleiche geredet – und dennoch aneinander vorbei. Die Kaffeetassen auf dem Tisch sind leer, die Wände um uns herum hängen voller Post-its. Die Mägen knurren, unsere Köpfe brummen. So

Photo
von Klaus Holsten

Free Play (Buchbesprechung)

Fast eine Generation nach dem Erstdruck ist eine deutsche Fassung von »Free Play« erschienen, ein Buch über die Spiritualität kreativer Prozesse in Leben und Kunst, dem Lebensthema des amerikanischen Musikers und Künstlers Stephen Nachmanovitch. Der universell gebildete

Photo
Gemeingütervon Anja Humburg

Wo Wasser Gemeinschaft schafft

Ob Müllabfuhr, öffentlicher Nahverkehr oder das ­Wasser aus der Leitung: Was früher eine öffentliche Aufgabe war, ist heute nicht selten eine Dienstleistung aus privater Hand. Städte und Gemeinden sind oft nicht mehr selbst oder nur noch in Teilen im Besitz ihrer

Ausgabe #22
Entscheidungskunst

Cover OYA-Ausgabe 22
Neuigkeiten aus der Redaktion