Titelthema

Die Demokratie ist auch eckig

Oya-Redakteur Dieter Halbach sprach mit der Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung Gisela Erler.von Dieter Halbach, Gisela Erler, erschienen in Ausgabe #22/2013
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Frau Erler, vor zwei Jahren, kurz nach dem Start der grün-roten Landesregierung in Baden-Württemberg, haben Sie in unserer Gesprächsrunde gesagt, die neue Demokratie sei weiblich und rund. Sie waren voller Optimismus und Tatendrang. Was ist bisher Ihr hoffnungsvollstes Erlebnis?

Wenn ich ins Land fahre und mit Bürgermeistern oder Initiativen spreche, dann sehe und fühle ich, dass viele Menschen diesen Geist von einem demokratischeren Leben, von mehr Selbergestalten, in die Hand genommen haben. Es gibt Gemeinden, die mit ihren Bürger­in­nen und Bürgern ihre Plätze gestaltet haben. Rund um die Energiedörfer und Bürgergenossenschaften sowie in der Kinder- und Jugendarbeit gibt es auch sehr großes Potenzial. Eine Glückserfahrung ist es, wenn ein großer Verkehrsanschluss – wie bei der B 27/B 28 in Tübingen – nach einer neuen, genialen und kostengünstigeren Bürgeridee umgesetzt wird. Das Land brummt und summt vor zahlreichen Aktivitäten, und viele Menschen sagen mir, dass sie endlich Rückenwind von Regierungsseite fühlen.

Haben die bisherigen Erfahrungen Ihre Denkweise zum Teil geändert?

Mir ist inzwischen bewusst geworden, wie wichtig es ist, klar zu definieren und zu kommunizieren, welche Beteiligungsformen und wieviel Mitbestimmung im einzelnen Fall möglich sind. Nehmen Sie das Beispiel der Stromtrassen. Die Firma Transnet versucht aktuell, die Bürger vor Ort in die Planungen einzubinden. Viele Menschen sind aber gar nicht bereit, über die Ausgestaltung zu diskutieren, da sie davon ausgehen, darüber entscheiden zu können, ob die Trasse überhaupt gebaut wird. Hier muss klar kommuniziert werden, dass der Bau von Stromtrassen durch Bundesrecht geregelt ist und nicht durch die lokale Ebene ausgehebelt werden kann. Das ist essenziell, um Enttäuschungen zu vermeiden.

Wird in der Bürgerbeteiligung im Vorfeld auch die Frage der Sinnhaftigkeit von Projekten diskutiert?

Ja. Auf kommunaler Ebene, wo die Entwicklung von Leitlinien für mehr Bürgerbeteiligung in einigen Städten und Gemeinden schon seit geraumer Zeit in Gang ist, gibt es gute Erfahrungen mit erweiterter Beteiligung. Aber es braucht noch mehr Qualifizierung und auch Veränderungen in Gesetzen und Verwaltungsvorschriften. Die Wirtschaft ist uns da oft einen Schritt vor­aus. Der Verein Deutscher Ingenieure hat gerade verbindliche Leitlinien zur Bürgerbeteiligung beschlossen. Deren Erkenntnis ist, dass sich große Industrieprojekte nicht mehr ohne verlässliche Verfahren, die früh ansetzen, umsetzen lassen. 

In unserem letzten Gespräch ging es um die Idee einer qualitativen Phase der kollektiven Meinungsbildung vor Bürger­entscheiden, auch mit dem Ziel, ideologische oder interessengeleitete Polarisierungen zu vermeiden und stattdessen kollektive Intelligenz zu fördern. Gibt es auf diesem Gebiet neue Erfahrungen?

In den vergangenen zwei Jahren hat sich meine Einschätzung bestätigt, dass wir die Bürgerinnen und Bürger, wie Sie es nennen, »qualitativ einbeziehen« müssen. Dialogische Verfahren bieten sich hier an. Diese sind nach unserer Erfahrung aber nur dann erfolgreich, wenn sie nicht zu konfrontativ sind und Interessengruppen an gemeinschaftlichen Lösungen arbeiten lassen. In den Verfahren der direkten Demokratie dagegen wird oft sehr schnell mit festen Ja-Nein–Positionen abgestimmt. Dennoch erscheint mir dieses Entscheidungsmoment der direkten Demokratie unverzichtbar. Wenn die reale Drohung von Bürgerentscheiden im Hintergrund steht, sind die üblichen Entscheidungsträger meist offener für neue Gedanken. Wir brauchen wirklich beide Werkzeuge – ohne das direkte Element verlieren die anderen Instrumente an Glaubwürdigkeit. Es hat zwar lange gedauert, aber ich hoffe, dass es jetzt kommt: die Absenkung der Quoren und die Einbeziehung der Bauleitplanung in die Bürgerentscheide und auch die von uns vorgesehenen Veränderungen bei Volksabstimmungen.

Dieses Element der direkten Demokratie verlangt auch die Möglichkeit kollektiven Lernens, um ihre Qualität zu verbessern.

Hier sprechen Sie einen wichtigen Punkt an. Die Landesregierung hat eine neue Schwerpunktsetzung der Beamtenaus- und -weiterbildung im Bereich Bürgerbeteiligung vorgenommen. Die Lehrpläne der Führungsakademie und der Verwaltungshochschulen im Land wurden um diesen Schwerpunkt ergänzt. Das Sozialministerium fördert die Ausbildung von Moderatoren, die »BürgerInnen-Räte« durchführen können. Ich erlebe, dass es für Fachleute aus den Behörden unglaublich positiv ist, wenn sie mit Bürgern in den Dialog treten. Das sind stärkende Erfahrungen, die zeigen, dass Menschen an Diskussionen über die Verwaltungsabläufe interessiert sind.

Was halten Sie von Planungszellen, die zufällig aus der Bevölkerung ausgewählt werden und Entscheidungen mit Unterstützung von Experten vorbereiten?

Auch das habe ich in den letzten zwei Jahren sehr zu schätzen gelernt. Ich sehe, dass wir oft starke Lobbys für das Gemeinwohl, wie zum Beispiel Kirchen oder Umweltverbände, haben, und wir haben sehr starke Vertreter von Privatinteressen, so dass die »Normalbürger« oft nicht die Chance erhalten, sich einzubringen. Da kann das Modell Planungszelle mit Zufallsbürgern helfen, weil die Beteiligten dann nicht vorgefasste Meinungen vertreten. Wir können dafür auch »Stimmlose« ansprechen, indem wir z. B. Menschen aus Migrantenvereinen, aus Elterngruppen, Kinder aus Schulen usw. einbeziehen, um das Feld der Lobbys aller Couleur zu erweitern. Solche Offenheit ist das Geheimnis gelingender Dialoge.

Wie wäre es mit Zufallsmischungen jenseits der Parteizugehörigkeit? Sie haben ja den Vorschlag gemacht, die ­Sitzordnung der Abgeordneten nach Fraktionen aufzulösen, um den Abstimmungen nach Fraktionszwang entgegenzuwirken.

Dieser Vorschlag hat für viel Trubel gesorgt. Ich sehe es immer noch so, dass, wenn wir all die angesprochenen Elemente der Beteiligung stärken, sich die Rolle der Parlamente verändert. Dann wird sich auch dort die Konfrontation relativieren. Die direkte Demokratie der Schweiz ist zum Beispiel untrennbar damit verbunden, dass sie eine Konsensregierung haben, die jeweils sachbezogen entscheidet. Alle Parteien sind in der Regierung, und lehnt das Volk einen Vorschlag der Regierung ab, muss sie nicht ausgewechselt werden. Oft wird uns vorgeworfen, mit direkter Demokratie die gewählte Vertretung zu schwächen. Umgekehrt wollen manche die repräsentative Demokratie einfach über Bord werfen. Wir brauchen aber Parteien und sicherlich auch gewählte Gremien.

In Oya diskutieren wir das Modell der kollaborativen Demokratie, die sich unter anderem in der Institution einer Bundeswerkstatt der Zivilgesellschaft als einer dritten Kammer ausdrücken soll.

Ich denke auch immer wieder über solche Wege nach. Bei ständigen Körperschaften befürchte ich, dass sie sehr schnell zu Funktionärsgremien werden, in denen die großen zivilen Organisationen und Experten das Sagen haben. Deswegen müssen wir auch fragen, wie sich so etwas ständig erneuert. Man darf sich mit solchen Modellen auch nicht von der Auseinandersetzung mit den widerborstigen Protesten der Verbände und der Straße freikaufen. Statt mit wilden Demonstranten redet man dann lieber mit netten Zufallsbürgern. Das kann nicht das Ziel und der Sinn sein. Wenn gegen Stuttgart 21 weiter demonstriert wird, dann ist das eben ein notwendiger und kritischer Blick auf eine offene Wunde.

Beim Nationalpark Nordschwarzwald haben Sie gegen den Willen der betroffenen Gemeinden das Projekt durchgesetzt. Wie reflektieren Sie da Ihr eigenes Vorgehen?

Wir haben den Nationalpark nicht gegen den Willen der direkt betroffenen Gemeinden durchgesetzt. Der Bürgerwille ist vielfältig, es gibt keine einheitliche Position zum Nationalpark. Meinungsumfragen im Land und in der Region haben gezeigt, dass die Mehrheit der Bürger dafür ist. Es ist richtig, dass es trotz eines intensiven und vorbildlichen Beteiligungsprozesses nicht gelungen ist, alle Bürgerinnen und Bürger zu überzeugen. Deshalb haben wir auch fünf der sieben Gemeinden, in denen sich nach informellen Bürgerbefragungen eine Mehrheit gegen den Nationalpark ausgesprochen hat, aus der Gebietskulisse genommen.

Haben Sie aus Ihrer Sicht auch Fehler ­gemacht, oder würden Sie heute manche Dinge anders angehen?

Wir haben noch nicht genügend verstanden, dass Politik nicht primär aus Argumenten, sondern aus Gefühlen besteht. Und in einem weiteren großen Beteiligungsprojekt, dem Filderdialog zum Bahnanschluss des Flughafens, haben wir überschätzt, was noch entscheidungsoffen war. Die Akteure, die sich dort auch unter meiner Federführung in die Diskussion begeben haben, haben schöne Modelle entwickelt, aber es gab keinen politischen und finanziellen Spielraum dafür. Zum Teil sind es auch notwendige Risikoerfahrungen, die man da macht. Die Politik mit ihrem kurzfristigen Erfolgsdenken erträgt das natürlich schwer. Deswegen haben wir mit Hilfe unserer Landesstiftung ein wissenschaftliches Projekt begonnen, in dem langfristig ein »Demokratiemonitor« erstellt wird. Jedes Jahr fragen wir Bürger: »Wie erlebt ihr die demokratische Entwicklung? Wo sind die Defizite?«

Dann sollten wir uns in zwei Jahren wiedersehen und miteinander weiterdenken. Was ist denn Ihr Wunsch für Ihre restliche Amtszeit?

Damals habe ich im Gespräch ja immer von Runden Tischen gesprochen. Jetzt sage ich: Die Demokratie ist rund und eckig! Es braucht beides, die weichen, dialogischen Formen und die Umsetzung in Verwaltungsvorschriften und Gesetzen. Wir haben sehr intensiv einen Planungsleitfaden zur Bürgerbeteiligung im Dialog mit Experten und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Landesverwaltung entwickelt, damit diese bereit sind, ihn umzusetzen. Im Herbst soll er vom Kabinett beschlossen werden. Danach können die betroffenen Verbände Stellung nehmen. Dieser Leitfaden ist tatsächlich verbindlich, da er mit einer Verwaltungsvorschrift versehen ist. Das bedeutet, dass sich zum ersten Mal ein Land verpflichtet, bei allen Vorhaben frühzeitig Bürgerbeteiligung durchzuführen. Es sind große Räder, die sich da drehen.

Mein Kommentar als Fußballfan dazu: Das Runde gehört ins Eckige! Das nennt man dann Tor. Und das wünsche ich Ihnen!

Den Spruch werde ich mir merken.•


Gisela Erler (67), Familienforscherin und Unternehmerin, ist Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg.

In Beteiligungsprojekten stöbern
www.beteiligungsportal.baden-wuerttemberg.de

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