Titelthema

Gefühle los!

Leichtigkeit ist schön und gut. Doch wer zu lange in die Sonne sieht, wird blind.
von Jochen Schilk, erschienen in Ausgabe #21/2013
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 An kleinen Kindern überrascht mich immer wieder, wie sie plötzlich von Traurigkeit zu Fröhlichkeit wechseln. Mehr noch erstaunt mich aber die völlig ungehemmte kindliche Hingabe an Gefühle von Trauer und Freude. Ich selbst habe die beneidenswerte Fähigkeit, derart tief zu fühlen, im Verlauf meiner 38 Lebensjahre verlernt, vermutlich schon irgendwo am Anfang. Heute lässt es sich kaum anders ausdrücken, als dass ich in mancherlei Hinsicht ein emotionaler »Klotz« bin: kühl, unberührbar, oft mehr steif als lebendig in Situationen, wo es um Ausgelassenheit geht. Da beruhigt es nicht, dass ich mich damit in Mitteleuropa anscheinend in zahlreicher Gesellschaft befinde. Sehe ich etwa in den Nachrichten, wie hemmungslos in anderen Kulturen getrauert wird, kommt mir das befremdlich vor. Fehlt es mir an emotionaler Intelligenz?
Zahlreiche Kulturen haben Wut- und Trauerrituale entwickelt, wohl aus dem intuitiven Wissen heraus, dass angestaute Gefühle Körper und Psyche vergiften. Die Neurowissenschaften ziehen nun nach und bestätigen, dass unterdrückte Gefühle das Immunsystem schwächen. Wir Westler haben dieses Unterdrücken derart perfektioniert, dass wir Profitherapeuten brauchen, um Emotionen freizulegen. Kolja Güldenberg ist Kommunikationstrainer; auch er erlebt in seiner Arbeit, wie sehr wir uns das Fühlen an sich heute weitestgehend abtrainiert haben. Speziell Männer berichten ihm häufig, seit Jahren nicht mehr geweint zu haben. Die Psychologin Gerlinde Fritsch erzählt in ihrem Buch »Praktische Selbst-Empathie« von einer Klientin, die von ihr verlangte, dass sie ihr helfe, »nie wieder Schmerz zu fühlen«. Fritsch erklärte ihr, diesen Auftrag ablehnen zu müssen, würde die erfolgreiche Therapie doch bedeuten, dass die Frau nie wieder lieben könnte.

Warum diese Angst vor dem Fühlen?
Angst vor Trauer, vor uneingestandener Wut, Verzweiflung, Leere, Ärger, Ohnmacht oder Einsamkeit. Angst vor der Angst. – Lieber stürzen wir uns in ein Leben voll oberflächlicher Leichtigkeit, als auch das weniger Schöne in uns anzusehen. Vielleicht stimmt es, was manche Vertreter der transpersonalen Psychologie sagen: dass nach dem Krieg die besiegten, beschämten Deutschen die Aufarbeitung all des erlebten Schreckens dem Überleben und Wiederaufbau unterordneten – und folgenden Generationen so ein immenses Reservoir an unerlösten Gefühlen vererbten. Vielleicht haben sich die Deutschen aber schon früher das Fühlen zugunsten des Funktionierens abgewöhnt. Und: Die kompensatorische Flucht in Konsum, in Drogen, Arbeitswut, Herrschsucht, spaßgesellschaftliche Events etc. ist in allen westlichen Ländern zu beobachten.
Unangenehme Emotionen, die wir nicht fühlen wollen oder können und deshalb in den persönlichen »Schattenanteil« verdrängen, sind ja nicht wirklich weg. Als »unerklärliche« Gefühls­attacken kommen sie in bestimmten Situa­tionen zum Vorschein, oder sie schleichen durch alle Zellen und verursachen chronische Depression oder auch körperliche Symptome. Was ist etwa mit dieser seltsamen Magenschwäche, die mich lange schon plagt? Ich möchte erkennen, was dahintersteht, doch es fällt schwer, Ohnmacht und Resignation, Ängste und Ärger nicht – wie gewohnt – durch die Aufnahme irgendwelcher Tätigkeiten oder Nahrungsmittel zu überdecken, sondern sie so lange beobachtend zu fühlen, bis sie von alleine wieder Platz für Leichteres machen. Es ist eine erstaunlich große, mir bislang unbekannte Seite meiner selbst, die ich da kennenlerne.
Um heftigere Gefühle zuzulassen, empfiehlt Kolja Güldenberg, sich ein »empathisches Gegenüber« zu suchen, also eine Person des Vertrauens, die zuhören und Zeuge sein kann. Auch sichere Gruppen­situationen und therapeutische Settings könnten gut dabei helfen, sich dem Verdrängten wieder zu öffnen.
Dass das Leben nicht nur aus Spaß und Leichtigkeit besteht, ist eine Binsenweisheit. Marshall Rosenberg, Begründer der Gewaltfreien Kommunikation, bringt sie eleganter und weiser zum Ausdruck: »Was auch immer das Gefühl ist – ob Schmerz oder Freude –, es ist ein Geschenk, und seine Schönheit liegt darin, dass es dir zeigt, dass du lebendig bist. Das Ziel im Leben ist nicht, immer glücklich zu sein, sondern all unser Lachen zu lachen und all unsere Tränen zu weinen. «  
 

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