Gesundheit

Buchstabengeflüster

Schreiben als Lebenshilfe? Wie ihre Liebe zu Worten und Wortschöpfungen eine Strategie der Lebensbewältigung und Selbsterkenntnis wurde, überrascht Sandra Döring heute manchmal selbst.von Sandra Döring, erschienen in Ausgabe #7/2011
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In der Schule war ich nie sonderlich gut darin, unter Druck Aufsätze zu einem bestimmten Thema zu schreiben. Dass ­Schreiben eine besondere Seite in mir zum Klingen bringt und sich zu einem wichtigen Teil meines Lebens entwickeln würde, wusste ich damals noch nicht. Heute gehe ich nie ohne Zettel und Stift aus dem Haus; falls doch, dann müssen eben Brottüten, Bierdeckel, Einkaufszettel oder Kassenbons als Einfallfänger herhalten.

Wie alles anfing
Ich war elf, als ich mein erstes »offizielles« Gedicht schrieb. Es war ein sehr trauriger Text, denn Teile meiner Kindheit waren von großer Verzweiflung überschattet. Den Schmerz auf Papier zu bannen, half mir, ihn zu ertragen. Beim Lesen empfand ich Trost, unendliches Verstandensein und Mitgefühl für mich selbst. Von da an gehörte das lyrische Schreiben zu mir.
Wenn in mir der Impuls zu schreiben erwacht, weiß ich, dass ich gerade an einem wichtigen Moment meines Lebens stehe; andernfalls kann ich gar nicht(s) schreiben. Aber in solchen Momenten fließt es aus mir heraus. Oft begreife ich meine Worte selbst nicht, während ich sie schreibe, und kann Tage später nur staunen, wie sehr das Formulierte den Kern des Erlebten trifft. So begegne ich dort zwischen den Zeilen auch der tiefen Weisheit in mir, verblüfft, welche Worte sie dieses Mal (er)fand. Es sind Momentaufnahmen, verdichtete Lebenserkenntnisse, die sich oft am Ende innerlicher Entwicklungsprozesse einstellen.
Über die Jahre habe ich mir viel Verzweiflung von der Seele ­geschrieben und nicht weniger Glücksmomente eingefangen. Diese gebannten Erinnerungen an wundervolle Augenblicke, besondere Menschen und an eine glückliche Sandra werden beim Lesen lebendig, so als würde man Fotos anschauen. Lese ich von Zeit zu Zeit in meinen Gedichten, kann ich mich an jeden konkreten Anlass erinnern. Diese werden zu einer großen Kraftquelle, denn ich erkenne, wie reich mich das Leben beschenkt hat: So viele ­Augenblicke, die mir durch das Erleben von Freude, Liebe oder Schmerz zur Inspiration wurden. Erinnerte Glücks­momente beflügeln meine ­Lebensfreude und Dankbarkeit, Schmerzmomente schenken Mitgefühl. Dann erinnere ich mich wieder: Das Schwere ist nur die halbe Wahrheit, gibt es doch gleichzeitig so viel Gutes in mir und um mich. Ich bin sowohl Freude, Leid, Verzweiflung als auch Hoffnung – ich bin lebendig! Alles darf da sein, ganz bewusst.
Schreiben ist für mich nicht nur eine wertvolle Ausdrucksmöglichkeit – in jedem Gedicht begegne ich mir selbst. Ich erkenne, was mich glücklich macht, erkenne meine Sehnsüchte und Wünsche, erkenne meine Unglücklichmacher. Lange Zeit blieb mein »Wort-Schatz« im Verborgenen, bis ich bemerkte, wie sehr das Lesen des Selbsterlebten auch andere berührt. »Sich in Geschriebenem wiederzufinden, ist einfach ein gutes, beruhigendes und manchmal sehr ermutigendes Gefühl«, hörte ich oft. Diese Erfahrung vom Ich zum Du hat mich bewegt und erfreut. Denn so darf ich anderen ein Stück Verständnis und Halt schenken oder ihnen ein Schmunzeln entlocken.

Schreiben und Selbstheilung
Als ich die Phase der Aufarbeitung des in Kindheit und Jugend Erlebten einläutete, sollte ich erfahren, wie sinnvoll das Schreiben als Methode der (Selbst-)Ausein­andersetzung ist. Es half mir, Antworten auf innere Fragen sichtbar, lesbar, hörbar zu machen. Ich schrieb Briefe an mein Inneres Kind und ließ es schreibend antworten. Ich schrieb Briefe an mein Höheres Selbst, meine unverletzliche innere Essenz. Ich stellte mir konkrete Fragen und ließ mein Herz darauf antworten. Ich schrieb Briefe an reale Personen, die ich nicht abschickte, da sie mit ihrer Niederschrift bereits ihren Zweck erfüllt hatten. Ich schrieb »Komplimentbriefe«, in denen ich meine Wertschätzung für Menschen, die mir besonders am Herzen liegen, aufschrieb, und die ihren Zweck wiederum erst erfüllten, als ich sie abschickte.
Es ist tatsächlich ein Unterschied, ob ich Worte nur in meinem Kopf höre oder sie aufschreibe. Das geschriebene Wort verleiht dem Inhalt Gewicht, Bedeutung und Nachhaltigkeit. ­Schreiben schenkt Dauerhaftigkeit, Selbstvertrauen und Zuversicht, indem es eine Rückschau auf überwundene Krisen ermöglicht. So kann ich an der Chronologie meiner Gedichte meinen persönlichen Entwicklungsweg buchstäblich ablesen. Schreiben eröffnet ein weites Feld an Experimentiermöglichkeiten, sofern man dem, was einen momentan bewegt, erlaubt, sich zu zeigen und auszudrücken.
Manche kreieren durch Materie, ich kreiere durch Worte. Dies hat mich sehr viel über mich gelehrt und ist zu einem festen Handwerkszeug auf meiner Reise durchs Leben geworden. Schreiben ist aus meinem Selbsterkenntnis-, Selbstentfaltungs- und Selbstheilungsprozess nicht wegzudenken.
Was für ein Glück! 

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